Ein Jahr nach dem Anschlag von Ankara
10. Oktober 2016"Als wir die erste Explosion hörten, schmissen wir uns völlig verängstigt auf den Boden. Die Menschen rannten in Angst und Panik auf uns zu. Wir befanden uns 40 bis 50 Meter vom Tatort entfernt", erinnert sich Tayfun Budak an den Tag des blutigsten Terroranschlags in der Geschichte der Türkei, der sich vor einem Jahr ereignete. "Wir wollten den Verletzten helfen und standen auf, um zu ihnen zu gehen. Plötzlich aber hörten wir eine weitere Explosion. Dieses Mal war es eine Gasbombe und es wurden auch Schüsse abgefeuert. Gaswolken umgaben uns", so der 38-Jährige.
An diesem Morgen befand er sich mit vier, fünf Freunden unter den Zehntausenden Demonstranten, die aus allen Teilen des Landes vor dem Bahnhof in Ankara zusammengekommen waren. Budak war als stellvertretender Vorsitzender des alevitischen Vereins Pir Sultan Abdal anwesend. Auf der Demonstration, die auf dem nur ein paar Kilometer entfernten Sıhhiye Platz stattfinden sollte, wollten die Demonstranten gemeinsam "Trotz dem Krieg, Frieden jetzt sofort" rufen.
"Als wir merkten, dass wir hier nicht sicher waren, gingen wir in den Gençlik Park. Doch auch dort warf die Polizei Gasbomben", erinnert er sich. Nach offiziellen Angaben wurden bei den Anschlägen der beiden Selbstmordattentäter hundert Menschen getötet und über dreihundert weitere verletzt.
Die meisten Teilnehmer waren Anhänger des sogenannten Friedensblocks (Barış Bloku), den drei Tage zuvor die Mitglieder der Oppositionsparteien CHP (Republikanische Volkspartei) und HDP (Demokratische Partei der Völker) sowie der wichtigsten oppositionellen Gewerkschaften und NGOs gegründet hatten. Dieser Friedensblock wendet sich gegen den neu entflammten Konflikt zwischen Sicherheitskräften und der kurdischen separatistischen PKK sowie gegen die Einmischung der Türkei in den syrischen Bürgerkrieg.
Die Hilfe kam zu spät
Zum Zeitpunkt des Attentats befand sich die Anwältin Gülderen Ertaş gemeinsam mit einer Freundin in einer Unterführung unweit des Bahnhofs. Der Staub und die Menschenmassen verstellten ihre Sicht, sodass sie von einer Blendgranate ausging. Als man sie beim Ausgang der Unterführung jedoch warnte, weiter entfernt lägen "Teile", sie solle sich nicht nähern, verstand sie, dass es sich um Körperteile der Menschen handelte, die von Bomben zerfetzt worden waren.
Ihr langjähriger Lebensgefährte Tayfun Birol, Mitglied der HDP und der Kommunistischen Partei und einer der Gründer der Gewerkschaft der Bauarbeiter, befand sich an dem Ort, an dem die zerfetzten Teile hingeflogen waren. "Ich rief ihn sofort an", so Gülderen Ertaş. "Als ich ihn nicht erreichte, ging ich davon aus, dass er den Verletzten hilft. Ich wartete zwei Stunden auf ihn. Ich selbst bin nie an den Tatort gegangen. Ich kann kein Blut sehen, sonst falle ich in Ohnmacht." Erst am späten Nachmittag erfuhr Gülderen Ertaş, dass ihr Lebensgefährte nicht mehr unter den Lebenden war.
Inzwischen gibt es Aussagen von anderen Augenzeugen, dass die Polizei nach den Anschlägen weiterhin mit Tränengas gegen die aufgebrachten Demonstranten vorging, wodurch sich die Hilfe für die Verletzten verzögerte und die Krankenwagen verspätet eintrafen.
Die erste Anhörung am 7. November
Ilke Işık befand sich vor einem Jahr ebenfalls unter den Demonstranten und ist nun die Anwältin des Vereins "Frieden und Solidarität 10. Oktober". "Wäre ich nicht einer der Anwälte dieses Vereins, würde ich selbst als Opfer klagen", sagt sie. Die erste Anhörung im Prozess gegen die Tatverdächtigen wird am 7. November, mehr als ein Jahr nach dem Anschlag, stattfinden. Insgesamt werden 36 mutmaßliche IS-Mitglieder angeklagt, von denen sich 24 auf der Flucht befinden.
Allerdings legen die Opfer Widerspruch gegen die 583 Seiten umfassende Anklageschrift ein. Hierfür gibt es zwei Gründe: Zum einen ist die Anwältin Ilke Işık der Ansicht, dass auch die Verantwortlichen bei den Behörden angeklagt werden müssten, da die Polizei keinerlei Sicherheitsvorkehrungen getroffen habe, obwohl der Geheimdienst Informationen über mögliche Anschläge hatte. Das gehe aus einem offiziellen Bericht hervor, den sie erhalten hätten. Sie erinnert daran, dass bei keinem dieser Beamten eine Befragung stattgefunden habe.
Zum anderen, beschreibe die Anklageschrift lediglich, wie sich der Vorfall ereignet habe. "Viele Fragen bleiben aber weiterhin unbeantwortet", so Ilke Işık. "Dieses Massaker ereignete sich nach den Wahlen in Diyarbakır am 7. Juni 2015. Einen Monat danach geschah das Massaker in Suruç, das zum Tod vieler Menschen führte. Und im vergangenen August starben bei dem Attentat in Gaziantep 55 Menschen. Das habe alles miteinander zu tun. Einige der Attentäter und der Organisatoren dahinter seien miteinander verwandt. Hätte man nur bei einem der Anschläge hinreichend ermittelt, hätten die anderen verhindert werden können", so die Anwältin.
Das Gouverneursamt von Ankara hat mit Hinweis auf die letzten Anschläge und die hundert Toten, die bei der Demonstration vor einem Jahr ums Leben kamen, seither alle weiteren Demonstrationen verboten.