Ein Märtyrer-Dorf auf Kreta
13. Februar 2018"Das alles, das war mal ein Dorf!", sagt ein älterer Mann und zeigt auf die marode Landebahn eines Flughafens. Neben ihm trifft das libysche Meer auf die Südküste Kretas. Der Strand des kleinen Örtchens Tympaki gehörte zu Zeiten der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg zu einem Flughafen der deutschen Wehrmacht. Von hier aus ließ Rommel seinen Afrikafeldzug versorgen und hier überlebte er nur knapp ein Attentat. Bis heute ist das Gelände militärisches Sperrgebiet. Tympaki gilt als eine von rund 110 griechischen Märtyrergemeinden. Das sind jene Städte und Dörfer, in denen die deutsche Wehrmacht zwischen 1941 und 1944 besonders grausam wütete.
Dem südkretischen Städtchen kommt dabei eine Sonderrolle zu. Massenerschießungen wie in anderen griechischen Dörfern gab es hier nicht. "Internationale Regeln, um den Status einer Märtyrergemeinde zu erhalten, besagen, dass mindestens 10 Prozent der Ortsbevölkerung von Besatzern ausgelöscht worden sein muss", sagt Maria Sofoulaki, Generalsekretärin des zuständigen Regierungsbezirks Phaistos. Im Tympaki ging es aber weniger um Tote, sondern um die systematische Auslöschung eines ganzen Dorfes. Fast alle Häuser wurden damals zerstört.
Das ganze Dorf zerstört
Im Veranstaltungssaal der örtlichen Kindergärten sind Plastikstühle aufgestellt. An den Wänden hängen Fotos der Besatzungszeit. Zeitzeugen versammeln sich, auch mehrere Abgeordnete aus Athen sind angereist, vertreten sind auch der Gouverneur Kretas und die Vorsitzenden verschiedener Opfervereine. Ehrengast aber ist eine Deutsche: Auf Einladung des Bürgermeisters ist die Grünen-Politikerin Claudia Roth nach Tympaki gereist.
Im Februar 1942 ließ die Wehrmacht bekanntgeben, die Bewohner von Tympaki hätten binnen 15 Tagen ihr Dorf zu räumen. Frauen und Kinder wurden in die umliegenden Dörfer vertrieben. Den Männern kam eine andere Aufgabe zu: Sie mussten ihre eigenen Häuser einreißen, die Steine zum Strand transportieren und der Wehrmacht so ihren strategisch wichtigen Flughafen bauen. Das Leben war für die zum Arbeitsdienst gezwungenen Männer eine Tortur. Die Nahrungsrationen reichten kaum zum Überleben. Die Deutschen ließen ihre Opfer bei sengender Hitze und ohne Wasser schuften. Wer gegen die Besatzer aufbegehrte, wurde bestraft. "Kaum eines der Häuser von damals existiert noch. Nur die besten haben sie stehen lassen, um selbst darin zu wohnen", erinnert sich Kostas Kotzakis. Acht war er, als die Deutschen ihn und seine Familie aus Tympaki vertrieben.
Den Opfern soll nun endlich auch öffentlich gedacht werden. Für Claudia Roth, als Vizepräsidentin eines deutschen Parlaments, in dem seit letztem Jahr auch eine rechtspopulistische und mitunter rechtsnationale Partei vertreten ist, ist der Besuch mehr als eine politische Pflichtveranstaltung. Zuvor war sie zwei Tage in Athen, um sich mit griechischen Ministern und Abgeordneten auszutauschen. Nun sitzt sie in der ersten Reihe der Gedenkveranstaltung in Tympaki. Die Erwartungen an den Gast aus Deutschland sind hoch, die Spannung im Raum spürbar.
Von Opfern, Märtyrern und Helden
Lange Zeit hatten sich die Griechen vergessen gefühlt bei der deutschen Aufarbeitung der Hitler-Diktatur, man hatte den Eindruck, über die Verbrechen der Wehrmacht in Griechenland wird weniger gesprochen als über die Verbrechen in anderen Ländern. Schon allein deswegen ist in den harten Jahren der Krise in Griechenland die Forderung nach angemessenen Reparationszahlungen wieder laut geworden. Zuletzt etwa im Rahmen von Roths Besuch in Athen. Und auch in den Reden eines über anderthalb Tage dauernden Gedenkmarathons wird das Thema aufgegriffen. Doch nicht nur das. Viele der Redner erinnern an den "passiven Widerstand" der Zwangsarbeiter von Tympaki. Diese hatten den Briten wichtige Informationen zugespielt und die Stellung der deutschen Besatzer in Kreta somit geschwächt.
Man lobt hier gerne die Helden des Kampfes gegen den Terror des Nationalsozialismus. Das Wort Opfer fällt dagegen eher selten. Nicht zufällig lautet die offizielle Bezeichnung Märtyer- und nicht Opfergemeinde. Mehrfach wird der Holocaust erwähnt, dies aber vor allem in Bezug auf sich selbst. Die im christlich-orthodoxen Griechenland vielfach vergessene jüdische Bevölkerung, von der kaum jemand überlebte, bleibt unerwähnt.
Auf Roth muss diese gleicherweise nationale wie stolze Form des Gedenkens mitunter befremdlich wirken. Hier prallen zwei Welten aufeinander: hier die institutionalisierte Erinnerungskultur eines Tätervolks, da die Welt der vergessenen Opfer, die 76 Jahre allein gelassen wurden mit ihrem Trauma. Dass einige von ihnen nach der ungesühnten Demütigung der Besatzer Trost suchen im Nationalismus, lassen viele der Redner erahnen. Doch wie soll eine deutsche Politikerin diesen Entwicklungen entgegentreten? Noch bleiben viele Dinge unausgesprochen bei dieser ersten Annäherung zwischen Roth und den Menschen von Tympaki.
"Erinnern darf nicht Routine werden"
Claudia Roth hat in ihrer politischen Karriere viele Gedenkveranstaltungen besucht. Dies merkt man ihr hier nicht an. Sie ist sichtlich berührt von den vielen Geschichten, die auf sie einprasseln. "Hierher zu kommen und zu wissen, dass diese Wunden nicht verheilt sind und Menschen hier zum allerersten Mal Trauer und Verlust herausschreien, war auch emotional eine große Herausforderung", sagt sie. "Wie kann es sein, dass die Nazis in Griechenland gewütet haben, Menschen getötet haben, ganze Orte zerstört haben wie hier in Tympaki, ohne, dass es in unseren Geschichtsbüchern auftaucht?"
Diese Frage hat auch die Menschen in Tympaki lange beschäftigt. Dementsprechend still ist es, als Claudia Roth ihre Rede hält. Gespannt hört man ihr zu. "Für mich ist das ein Tag der Scham", bekennt sie und betont: "Auch mir war lange nicht bewusst, was unter deutscher Besatzung auf Kreta geschehen war." Es ist ein zentraler Satz, der den Kern der Stimmung in Tympaki trifft.
Warum man in Deutschland diesen Aspekten des Nazi-Terrors bisher keine ausreichende Beachtung schenkte, erklärt sie nicht. Sie sagt aber: "Erinnern darf nicht Routine werden." Damit antwortet sie auch auf die Forderungen der rechtsnationalen Kräfte in Deutschland, die das dunkle Kapitel der deutschen Geschichte nur zu gern schließen würden. Und Routine war Roths Besuch in Tympaki allemal nicht.