Ein neues Wohnzimmer für Opa
5. Dezember 2023Die Nachricht kam früh am Morgen. Opa ist gestorben. Wenn du ihn nochmal sehen willst, dann komm. Ich machte mich sofort auf den Weg.
Als ich mich von Opa verabschiedet habe, hielt ich seine kalte Hand fest umklammert. Die Fenster in seinem Schlafzimmer waren geöffnet, die blauen Vorhänge zugezogen. Sie ließen die letzten Strahlen eines endenden Sommers ins Zimmer. Leise rauschten Autos über die Straße.
Das Loslassen seiner Hand fiel mir unendlich schwer. Für mich bedeutete es das Loslassen unserer ganzen gemeinsamen Geschichte. Mein Opa hätte in diesem Oktober seinen 101. Geburtstag gefeiert.
Ich habe noch kein Weihnachten ohne meinen Opa erlebt. Es gab keinen wichtigen Moment in meinem Leben, an dem Opa nicht Anteil genommen hat. Kein gemeinsames Essen, in dessen Anschluss er nicht auf ein Dessert oder mindestens ein Eis bestand. Zur Feier des Tages.
Wir haben zusammen gelacht und geweint. Wir haben uns gestritten und waren anderer Meinung. Meistens war es leicht, mit Opa auszukommen, aber es gab auch anstrengende Zeiten. Opa war einfach Familie für mich.
Als ich Opas Zimmer verließ, ging ich wieder zurück in die Welt, die immer noch da war. Nur ohne meinen Opa. Ich habe einen Kaffee getrunken und ein Croissant gegessen und werde nie vergessen, wie schwer sich die alltäglichsten Dinge anfühlen können.
Wenige Tage später fand die Beerdigung statt. Wir beerdigten meinen Opa an einem viel zu heißen Septembertag, die Sonne schien erbarmungslos schön. Ich machte ein Foto des Himmels, der unseren Abschied begleitete.
Ich hatte gemerkt, dass der Tod schon lange Opas Gast war. Jeder Geburtstag, den wir feierten, ließ auch den Tod immer greifbarer werden. Einige Wochen bevor Opa verstarb, war der Tod fast wie ein aufdringlicher Besucher geworden, der sich in die Mitte seines Wohnzimmers gesetzt hatte. Er hatte Kälte mitgebracht. Opa trug in seinem letzten Sommer Pullover, hatte eine Decke auf den Knien und ein wärmendes Kissen im Rücken. Ihm war bewusst, dass der Tod dieses Zimmer nicht mehr ohne ihn verlassen würde. Ich merkte es an Opas Worten: Es war Zeit für ihn geworden, nochmal zu sagen, was ihm wichtig war.
Aber all das rettete mich nicht davor, dass die Schwere des Abschieds mich völlig übermannte. Ich habe noch keinen Verlust als so schmerzlich erlebt. Ich wusste nicht, wie erschöpfend Trauer sein kann. Wie viel Energie Trauer rauben kann. Sie hat mein Leben völlig durcheinander gewirbelt.
Ich weiß nicht, wie es sich erst anfühlen würde, hätte ich nicht meinen Glauben daran, dass Opas Seele noch da ist. Ich bin überzeugt davon, dass auf eine geheimnisvolle Weise etwas von Opa für immer bleiben darf. Und, dass Opas Seitenwechsel bedeutet, dass er Gott begegnet ist und er ihn behutsam bei sich aufgenommen haben wird.
In wenigen Tagen begehen wir den Feiertag Allerseelen. Allerseelen lädt dazu ein, ganz bewusst all den Menschen zu gedenken, die auch nach ihrem Tod weiter einen festen Platz in unserer Mitte haben. Beginnt ein Leben, dann werden Bände geknüpft, Beziehungen entstehen. Wenn ein Leben zu Ende geht, zerbrechen Beziehungen, die um den Menschen herum gewachsen sind. Allerseelen bringt im Erinnern wieder zusammen.
Ich bin dankbar für einen Tag wie diesen. Feste und Brauchtümer räumen Platz für etwas ein, das oft zwischen der Geschäftigkeit des Alltags verschwindet. Raum zu haben für alle Gefühle, die da sind, wenn wir einen geliebten Menschen verlieren, ist nicht leicht. Ich habe von mir selbst erwartet, dass sich das Leben schnell wieder „normal“ anfühlen muss. Wie oft habe ich nicht nur gehört, sondern auch selbst gedacht, er sei ja „immerhin“ 100 geworden. Er habe ein langes Leben gehabt. Das stimmt, aber geholfen hat es mir wenig. Opa ist weder aus Unrecht gestorben, noch ist er zu früh gestorben. Trotzdem würde ich ihn genauso vermissen, wäre er 120 Jahre alt geworden.
Opa hat ein neues Wohnzimmer. Eines, in dem die Wärme wieder eingezogen ist. Eines, in dem er angekommen ist. Allerseelen bestärkt mich in diesem Glauben. Die Seelen unserer Verstorbenen irren nicht umher. Sie haben Ruhe gefunden.
Melina Sieker
Melina Sieker, geboren 1988, studierte Katholische Theologie, Praktische Philosophie und Geschichtswissenschaften in Paderborn. Sie ist Mentorin für Lehramtsstudierende und arbeitet als Referentin für den Prozess Diözesaner Weg 2030+ im Erzbistum Paderborn.
Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.