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Ein Picknick - und ein Geheimnis der Geschichte

19. August 2019

Speck und Bier sollte es geben, direkt an der ungarisch-österreichischen Grenze. Vor 30 Jahren ermöglichte das Fest für ein offenes Europa - halb gewollt, halb unbeabsichtigt - die erste Massenflucht aus dem Osten.

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Grenzöffnung Österreich - Ungarn 1989 - geflüchtete Bürger der DDR
An einem Nachmittag im August: Aus dem Urlaub in die Freiheit Bild: picture-alliance/dpa/Votava

Große Geschichte beginnt mitunter ganz klein. Der 19. August 1989 zum Beispiel. Der Himmel über Sopronpuszta verheißt an diesem Tag nichts Gutes. Schwere, graue Wolken hängen über dem ungarischen Örtchen, nur einen Spaziergang weit entfernt von der österreichischen Grenze. Ein Picknick steht für diesen Tag auf dem Plan, aber kein gewöhnliches. Ein politisches, ein symbolisches Beisammensein soll es werden. Von 15 bis 18 Uhr, direkt am Grenzzaun. Ein Zeichen für ein Europa ohne Barrieren. Tatsächlich fallen Speck und Bier buchstäblich ins Wasser - ein Platzregen lässt die Grillfeuer ausgehen, bevor sie richtig heiß sind.

Über diesen Tag würde kein Chronist auch nur ein Wörtchen verlieren, wenn sich an diesem 19. August nicht die seltene Kombination aus Gelegenheit, Zufall und Entschlossenheit bei allen Beteiligten Bahn gebrochen hätte. Denn am Ende des Tages hatten fast 700 DDR-Bürger die Seiten gewechselt. Das bisschen Holzgatter nahmen die ostdeutschen Ungarn-Touristen im Sturm und stolperten in die Freiheit nach St. Margarethen ins österreichische Burgenland. Die Ouvertüre zum Berliner Mauerfall drei Monate später - große Politik als Laienspiel.    

Grenzöffnung Österreich - Ungarn 1989 | Johann Göltl und Arpad Bella
"Wir hatten eine Glock - neun Millimeter": Hansi Göltl (li.) und Arpi Bella 30 Jahre danachBild: picture-alliance/dpa/M. Röder

Die Helden und ihre Waffen: "Wir hatten die Glock, neun Millimeter"

Mittendrin "Hansi" und "Arpi". Chefinspektor Johann Göltl und Oberstleutnant Arpad Bella kennen sich 1989 schon seit Jahren. Der eine tat Dienst auf der westlichen Seite der Grenze, der andere hinter dem Eisernen Vorhang. "Wir hatten die Glock", erinnert sich "Hansi" Göltl gegenüber Journalisten 25 Jahre danach. "Neun Millimeter! Die Glock ist eine Katastrophe, die geht sofort los, und wir mussten entsichert Dienst machen." Auch "Arpi" Bella hatte eine Glock im Holster - allerdings ein ungarisches Fabrikat.

Bis heute rätseln beide über das, was kurz vor 15 Uhr wie ein Naturereignis über sie kam. "Hansi" und "Arpi" stehen zu diesem Zeitpunkt direkt an der Grenze in Erwartung der angekündigten politischen Picknicker. Der Grünstreifen auf ungarischer Seite ist schlecht zu überschauen, eine Hügelkuppe verstellt den Blick. Urplötzlich marschieren hunderte Männer, Frauen und Kinder den Hügel herunter, beschleunigen, rennen an "Arpi" und vier, fünf anderen Grenzbeamten vorbei, drücken das Grenztor auf und stehen Sekunden später in einer anderen Welt - im Westen.

Abstimmung mit den Füßen

Tausende sollten folgen, denn im Sommer 1989 ist die DDR am Ende. Das Land befindet sich wirtschaftlich im freien Fall, die Menschen begehren auf, während Erich Honecker und seine Regierung noch Jubelmeldungen zum 40. Geburtstag des Arbeiter- und Bauernstaates in Umlauf bringen. Die Signale aus dem Volk bleiben ungehört. Es ist die Zeit, in der die Ostdeutschen beginnen, mit den Füßen abzustimmen.

Paneuropäisches Picknick

In Ungarn, dem westlichsten der Ostblockländer, halten sich zu diesem Zeitpunkt rund um den Plattensee zehntausende DDR-Urlauber auf. Erste Gerüchte über die löchrige Grenze nach Österreich machen die Runde. Schon im Mai hatten die Außenminister beider Länder, Alois Mock und Gyula Horn, den Grenzzaun symbolisch zerschnippelt. Die Gelegenheit scheint günstig - so sehr, dass viele ihr Ungarn-Visum verfallen lassen und länger bleiben. Klammheimlich wird die Flucht vorbereitet. Ortskundige Ungarn geben Tipps. Der mittlere der drei Wachttürme bei Sopronpuszta sei nie besetzt, einfach beim Steinbruch in den Wald hinein und auf den Turm zusteuern. Der Tag des Paneuropäischen Picknicks, einer Idee von Otto von Habsburg, dem damaligen Präsidenten der Paneuropa-Union und Sohn des letzten Kaisers von Österreich-Ungarn, erweist sich als ideale Gelegenheit für die Republikflucht.   

Wer waren die Fluchthelfer?

Ungarn war damals schon ziemlich weit fortgeschritten beim Aufweichen der sozialistischen Staatsdoktrin. Ein Jahr vor dem historischen Picknick beschenkte die Budapester Regierung ihre Bürger mit Reisefreiheit. Den "Eisernen Vorhang" bezeichnete im selben Jahr Staatsminister Imre Pozsgay als "moralisch und politisch veraltet". Als "Aufpasser" für die zehntausenden Plattensee-Urlauber aus der DDR wollten sie nicht mehr länger herhalten.   

Die Frage, wer denn nun am 19. August Regie führte, bleibt auch 30 Jahre danach weitgehend unbeantwortet. Hatten die neu formierte ungarische Opposition, ein abwesender Kaisersohn (Otto von Habsburg ließ sich durch Tochter Walburga vertreten) oder die Geheimdienste den Hut auf? Oder alle drei?

Walburga von Habsburg, nennt ihren Vater als Ideengeber des politischen Picknicks, das ausdrücklich von der damaligen ungarischen Regierung genehmigt worden sei. Bis heute hält sich aber auch die Theorie, das neu formierte Oppositionsbündnis, das "Ungarische Demokratische Forum" (MDF), habe die Speckbraterei organisiert, um den Demokratieprozess in Ungarn zu testen.

Grenzöffnung Österreich - Ungarn 1989 | DDR-Flüchtlinge
Geschafft! - "Zufällig in der Nähe" und die Chance genutzt Bild: picture-alliance/dpa/Votava

Richtig konspirativ wirkt folgendes: Kein geringerer als der damalige Staatsminister Imre Pozsgay, einer der Schirmherren des Picknicks, hatte in den Tagen vor dem 19. August die Malteser des Landes kontaktiert. Die kümmerten sich um die DDR-Urlauber, die nicht zum Schwimmen an den Plattensee, sondern zur Flucht in den Westen gekommen waren. Seine Botschaft: Die Grenze werde einige Stunden offen sein und die DDR-Urlauber "könnten den Weg schon finden, wenn sie sich zufällig in der Nähe aufhalten würden".      

Die wundersame Flugblatt-Vermehrung

Interessanterweise sind sich die ungarischen Oppositionellen und die Paneuropäische Union in einem Punkt einig: Beide können bis heute über die Eigendynamik des Nachmittags nur staunen. Im Hintergrund müssen andere am Werk gewesen sein, diskret, aber wirkungsvoll. Laszlo Nagy, ein früherer MDF-Aktivist, wundert sich noch heute, dass ein Chauffeur der bundesdeutschen Botschaft in Budapest im Vorfeld des Picknicks säckeweise Flugblätter rund um den Plattensee verteilt hatte - "Einladungen" zum Picknick - auf deutsch und auf ungarisch. Das unsichtbare Mitwirken des Bundesnachrichtendienstes und anderer Geheimdienste gilt inzwischen als offenes Geheimnis.

Vorbereitungen dieser Art erwiesen sich für Arpad Bella und seine Mannen als gefährliches Dilemma. Die Flüchtlinge aufhalten war sein Job, notfalls mit Waffengewalt, sie gewähren lassen ein Dienstvergehen. Geradezu spitzbübisch mutet die Lösung Bellas an. Die Ungarn drehten den anstürmenden 700 einfach den Rücken zu und kontrollierten stattdessen die Ausweispapiere der von Österreich eintreffenden Picknick-Gäste. Eine Heldentat? 

Grenzöffnung Österreich - Ungarn 1989 | Helmut Kohl und Nemeth Miklos 15. Jahrestag Wende
"War doch alles abgesprochen" - Helmut Kohl und der ehemalige ungarische Ministerpräsident Nemeth Miklos am 15. Jahrestag der Wende Bild: picture-alliance/SCHROEWIG/J. Krauthoefer

Mitnichten! "Arpis" Kollege Johann "Hansi" Göltl hatte den Sturm auf das Holzgatter von der anderen Seite miterlebt. Jahre später berichtete er Alt-Kanzler Helmut Kohl von dem Husarenstück, und dass Bella postwendend ein Disziplinarverfahren am Hals hatte. "Dieser Blödmann", soll Kohl über Bellas Chef gesagt haben, "das war doch alles abgesprochen".

Porträt eines Mannes mit Mittelscheitel und Bart
Volker Wagener Autor für DW Programs for Europe