Ein weltweites Verbrechen: gestohlene Kinder
22. November 2023Leonardo Fossati Ortega ist extra aus Argentinien nach Berlin gekommen, um im Deutschen Bundestag seine Geschichte zu erzählen. Die Geschichte eines gestohlenen Kindes. Sein Schicksal ist eines von vielen, die im Berliner Rathaus bis Ende November 2023 in einer Ausstellung zu sehen sind. Das Konzept stammt von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Elisabeth-Käsemann-Stiftung.
Als Leonardo 1977 geboren wurde, herrschte in seinem Heimatland eine Militär-Diktatur. Die Mutter Inés war noch Teenagerin und in einer Jugendorganisation aktiv. Ihr Freund Rubén, Leonardos Vater, engagierte sich an der Universität. Beide gerieten ins Visier der mörderischen Junta und sind bis heute verschwunden, wurden höchstwahrscheinlich ermordet. Wie so viele bis zum Ende der Diktatur 1983.
"Ich hatte immer Zweifel an meiner Identität"
Derweil wuchs Leonardo bei fremden Menschen auf. "Ich hatte immer Zweifel an meiner Identität, denn meine Eltern waren im Vergleich zu denen meiner Freunde eher Großeltern. Ich fand auch keine Ähnlichkeiten in der Physiognomie." Erst als er schon 20 Jahre alt war, traute sich der inzwischen junge Mann, seine vermeintlichen Eltern zu fragen. "Sie erzählten mir dann die Wahrheit."
Demnach erzählte ihnen eine Hebamme aus der Nachbarschaft, er sei das verlassene Kind einer jungen Frau aus La Plata, die ihr Kind nicht habe behalten wollen. Leonardo versuchte, die Hebamme zu finden - vergeblich. Den entscheidenden Tipp auf der Suche nach seinen wahren Wurzeln gab dann eine Freundin an der Schauspielschule in Buenos Aires: Er solle sich mal an die "Großmütter der Plaza de Mayo" wenden.
Entführte und im Gefängnis geborene Kinder
Diese Gruppe mutiger Frauen hatte sich schon während der Militär-Diktatur gegründet und verlangte von den Machthabern Aufklärung über den Verbleib ihrer Kinder sowie den entführten oder im Gefängnis geborenen Enkelkindern. Nach dem Ende der Diktatur initiierten die "Großmütter der Plaza de Mayo" mit Hilfe von Blutproben eine Gendatenbank.
So konnte Leonardo das Rätsel seiner wahren Identität lösen: "Meine biologische Familie, deren Blut in der Datenbank gespeichert war, hatte fast 28 Jahre nach mir gesucht." Als erwachsener Mann lernte Leonardo seine Großeltern kennen. Von seinem leiblichen Vater gibt es in der Berliner Ausstellung ein Foto - von seiner Mutter nicht einmal das.
Viele "gestohlene Kinder" suchen noch immer ihre Eltern
Dass er nun die Wahrheit kennt, empfindet Leonardo als Trost: "Zum ersten Mal erkenne ich die Ähnlichkeit mit anderen Menschen - meiner Familie." Ähnliche Erfahrungen konnten etwa 130 von geschätzt 500 während der Militär-Diktatur in Argentinien gestohlenen Kindern machen. Die anderen Schicksale sind noch immer ungeklärt, und viele werden es wohl auch bleiben.
Dennoch will Leonardo die Hoffnung nicht aufgeben und betrachtet sich als Teil einer Schicksalsgemeinschaft: "Für uns ist es sehr wichtig, die Suche fortzusetzen, neue Freundschaften zu schließen und Brücken zu bauen", sagt der inzwischen 46-Jährige.
Geburtsort: Speziallager Bautzen
Alexander Latotzky ist sogar schon 75 und ein gestohlenes Kind aus Deutschland. Seine Geschichte steht in der Ausstellung stellvertretend für viele ähnliche Schicksale, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR ereigneten.
Das Licht der Welt erblickte Alexander im Speziallager Bautzen, wo seine Mutter wegen angeblicher Geheimdienst-Spionage inhaftiert war. Die Strafe: 15 Jahre Haft und Zwangsarbeit. Die ersten beiden Lebensjahre verbrachte der Junge in drei verschiedenen Lagern und wurde dann in Kinderheime gesteckt.
Der Vater wurde von den Nazis nach Deutschland verschleppt
Erst 1956 durfte er zurück zu seiner Mutter, die wegen einer schweren Erkrankung vorzeitig entlassen wurde. Sie starb 41-jährig an den Folgen der schweren Haft. Den Vater ihres Sohnes hat sie nie wieder gesehen. Er stammte aus der Ukraine und war 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, von den Nazis zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden.
"Für mich ist die Ausstellung unheimlich wichtig, weil ich mich seit Jahrzehnten darum bemühe, das Schicksal von Kindern und politischen Gefangenen bekannt zu machen", sagt Alexander Latotzky der DW. Kurz nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 habe man sich für dieses Tabu-Thema durchaus interessiert, aber das habe sich schnell wieder geändert. "Irgendwie habe ich das Gefühl, dass die Leute das nicht mehr für so wichtig halten."
Das DDR-Regime drohte mit Zwangsadoption
Kinder seien immer die Schwächsten in der Gesellschaft, weiß Alexander Latotzky aus bitterer Erfahrung. In der kommunistischen DDR-Diktatur habe man Frauen oft damit gedroht, ihre Kinder zur Adoption freizugeben, wenn sie nicht bereit gewesen seien zu kooperieren. Meistens bedeutete das, sich mit der Geheimpolizei, kurz Stasi, einzulassen. "Das ist ein Beispiel von vielen, das Diktatoren immer wieder anwenden, um ihre Gegner unter Druck zu setzen", sagt Alexander Latotzky.
Evelyn Zupke kennt viele solcher Geschichten. Sie ist die vom Deutschen Bundestag gewählte Beauftragte für die Opfer der SED-Diktatur. Das Kürzel steht für die einstmals allmächtige Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, deren Macht in der friedlichen Revolution 1989 von den Menschen in der kommunistischen DDR gebrochen wurde.
Opfer, die das Schweigen brechen
"Für mich ist es immer wieder bewegend, mit Opfern über das zu sprechen, was ihnen widerfahren ist", sagt Evelyn Zupke. "Das Schweigen zu brechen ist für die Opfer eine große Herausforderung. Für unsere Gesellschaft ist es ein großer Gewinn."
Menschen wie Alexander Latotzky aus Deutschland und Leonardo Fossati Ortega aus Argentinien geben den oft abstrakt wirkenden Geschichten Gesichter. Viele von ihnen in der Berliner Ausstellung über "Gestohlene Kinder" stammen auch aus anderen Ländern, darunter die längst aufgelöste Sowjetunion, El Salvador und Kanada.
Von Russland entführte Kinder aus der Ukraine
"Die gewaltsame Trennung von Eltern und Kindern ist kein Kapitel der Vergangenheit", steht auf einer Texttafel der Ausstellung. "Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine wurden Tausende Kinder aus der Ostukraine nach Russland verschleppt. Die chinesischen Behörden deportieren uigurische Kinder in Umerziehungslager, und Terrororganisationen wie Boko Haram entführen in Nigeria gezielt Mädchen."
Nach dem Auftakt im Bundestag ist die Ausstellung bis Ende November 2023 im Berliner Rathaus zu sehen. Dass sie aus der deutschen Hauptstadt ihren Weg in die Welt findet, dafür soll das Baukasten-Prinzip sorgen. Die 24 Plakate in den Maßen schmaler Zimmertüren werden auf Anfrage an Bildungseinrichtungen wie das Goethe-Institut geliefert. Ansprechpartner ist die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Der Artikel wurde am 22.11.2023 veröffentlicht und am 29.11.2023 aktualisiert.