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Politik

Ein zwangsläufig virtueller Auschwitz-Jahrestag

26. Januar 2021

Sehnsüchtig warten die mittlerweile hochbetagten letzten Auschwitz-Überlebenden auf das Ende der Pandemie. Corona behindert ihre Mission: Die Erinnerung wachzuhalten. Kann die Digitalisierung des Gedenkens dabei helfen?

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Besucher mit Corona-Schutzmasken in der Gedenkstätte des ehemaligen deutschen Nazi-Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau nahe der polnischen Stadt Oświęcim am 1. Juli 2020, dem Tag der Wiedereröffnung. Zuvor war die Gedenkstätte wegen Corona bzw. COVID-19 das erste Mal seit 1947 geschlossen, die Besucherzahl 2020 schrumpfte im Vergleich zu 2019 auf ein Fünftel
Mit Corona-Schutzmasken: Besucher der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau am Tag ihrer Wiedereröffnung, dem 1. Juli 2020Bild: BARTOSZ SIEDLIK/AFP/Getty Images

Es ist gar nicht so lange her, da hatte ich, die Autorin dieses Textes, viele Telefonnummern von Auschwitz-Überlebenden in meinem Handy. Dieses Jahr musste ich wieder ein paar davon löschen: Entweder meldete sich niemand mehr oder die Nummern waren schon neu vergeben. 76 Jahre nach der Befreiung des deutschen Konzentrationslagers in der Nähe der polnischen Stadt Oświęcim sind nicht mehr viele ehemalige Häftlinge am Leben.

Kennengelernt habe ich "meine" Auschwitz-Überlebenden im Laufe der Jahre bei Veranstaltungen, vor allem bei der alljährlichen Feier am 27. Januar in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau - dem Ort, wo 1945 Soldaten der Roten Armee 7000 ausgehungerte, entkräftete Gefangene vorfanden. Insgesamt wurden in Auschwitz mindestens 1,1 Millionen Menschen ermordet.

Für die Überlebenden ist der Besuch jedes Jahr eine schwere Reise. Manche kommen noch im hohen Alter von weit her, andere verbringen ihr ganzes "Leben nach Auschwitz" in der Nähe des Ortes, der in ihre Biographien eingraviert ist wie die tätowierte Häftlingsnummer in ihre Haut.

Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD, M) vor dem Hauptgebäude des ehemaligen deutschen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau  in der Nähe der polnischen Stadt Oświęcim. Rechts neben Maas steht Andrzej Kacorzyk, der stellvertretende Direktor der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, links der Auschwitz-Überlebende und Vorsitzende des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, Marian Turski
Vor Corona: Marian Turski (v. mit Krücken) mit prominenten Besuchern in Auschwitz am 27. Januar 2020Bild: picture alliance/dpa/M. Kappeler

Die Rückkehr an die Stätte ihres Leidens kostet sie viel Überwindung - trotzdem kamen sie immer wieder. Aus Pflichtbewusstsein den nächsten Generationen gegenüber. Um zu warnen und zu erinnern an das Unvorstellbare. In der Gedenkstätte wurde ihnen jedes Jahr erneut mit größter Aufmerksamkeit zugehört. Der Satz "Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen", mit dem Marian Turski im vergangenen Jahr vor einer möglichen Wiederholung des Grauens warnte, wurde weltweit wahrgenommen.

Gedenken in Zeiten von Corona

Aber dieses Jahr ist alles anders. Die Corona-Pandemie hat auch Auschwitz fest im Griff. Die Feierlichkeiten finden im Netz statt, und so wird der diesjährige 27. Januar für die an diesem Tag wichtigsten Gäste der Gedenkstätte ganz anders verlaufen als sonst.

Bogdan Bartnikowski, der als 12jähriger mit seiner Mutter nach Auschwitz kam, hinter spricht hinter einem Rednerpult stehend in der sogenannten Sauna des ehemaligen ehemaligen deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau nahe der der polnischen Stadt Oświęcim am 6. Dezember 2019. Im Publikum: Bundeskanzlerin Angela Merkel und der polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki.
Bogdan Bartnikowski, der als 12jähriger ins KZ kam, spricht am 6. Dezember 2019 in der "Sauna" von Auschwitz-BirkenauBild: Reuters/K. Kacper

"Ich bedauere das sehr", sagt Bogdan Bartnikowski, der als 12jähriger mit seiner Mutter nach Auschwitz kam. Normalerweise besucht er die Gedenkstätte mehrmals im Jahr, um von seiner Gefangenschaft zu berichten. Obwohl es ihn immer wieder stark mitnehme und lange nicht loslasse, dort zu sein und über das Erlebte zu sprechen, halte er es für seine Pflicht. Er kenne ehemalige Mithäftlinge, die nicht über Auschwitz reden wollen. "Ich aber blicke auf Birkenau mit einer Art Sentimentalität und einer gewissen Freude darüber, dass es mir gelungen ist, dort raus zu kommen", erzählt der heute 89jährige, der sofort ans Telefon gegangen ist und über ein fabelhaftes Gedächtnis verfügt.

Im Fokus: Kinderschicksale

Bartnikowski erinnert sich an jedes Datum, an viele Details und zahlreiche Gespräche aus seiner zerstörten Kindheit. "Mit 12 habe ich Mord, Straßenrazzien und den Tod unschuldiger Menschen gesehen. Wir haben die Welt mit den Augen Erwachsener wahrgenommen. Das alles beschleunigte das Erwachsenwerden", erklärt er.

Der Auschwitz-Überlebende Bogdan Bartnikowski, 82, der mit der Lagernummer 192731 registriert war, hält ein Familienfoto für ein Porträt in Warschau am 18. Dezember 2014 in der Hand. Bartnikowski war 12 Jahre alt, als er und seine Mutter ins Lager Auschwitz-Birkenau geschickt wurden. Nach dem Krieg arbeitete Bartnikowski als Pilot und wurde später Journalist und Schriftsteller.
Bogdan Bartnikowski zeigt ein Foto seiner Familie aus der Zeit vor dem deutschen Überfall auf PolenBild: Reuters/K. Pempel

Kinderschicksale wie das von Bogdan Bartnikowski stehen bei den diesjährigen, zwangsläufig virtuellen Feierlichkeiten in Auschwitz im Mittelpunkt. Nach Angaben der Gedenkstätte wurden von 1940 bis 1945 mindestens 232.000 Minderjährige nach Auschwitz deportiert, darunter etwa 216.000 Juden, 11.000 Roma und 3.000 Polen. 700 von ihnen waren noch am Leben, als das Lager befreit wurde.

200.000 wurden ermordet

"In Auschwitz wurden mehr als 200.000 Kinder ermordet", erinnert Gedenkstättenleiter Piotr Cywiński . "Völlig unschuldige Kinder, voller Neugier aufs Leben, Urvertrauen und Liebe zum Nächsten. Noch nie hat die Welt der Erwachsenen, die oft ungerecht und grausam ist, so viel von ihrer Gefühllosigkeit und ihrem Bösen offenbart. Das lässt sich mit keiner Ideologie, mit keinem Vergleich, mit keiner Politik rechtfertigen."

Gedenkstättenleiter Piotr Cywiński geht mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und dem Leiter des Internationalen Bildungszentrums Auschwitz, Andrzej Kacorzyk (v.l.n.r.), am 6. Dezember 2019 durch das Tor des ehemaligen deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz nahe der polnischen Stadt Oświęcim
Gedenkstättenleiter Cywiński, Kanzlerin Merkel, Polens Premier Morawiecki und Bildungszentrumsleiter Kacorzyk (v.l.n.r.) am 6.12.2019 in AuschwitzBild: Reuters/K. Pempel

Bogdan Bartnikowski, der im KZ fünf Monate von seiner Mutter getrennt war, wurde 16 Tage vor der Befreiung des Konzentrationslagers mit ihr und anderen Frauen mit Kindern nach Berlin-Blankenburg "evakuiert", in ein Außenlager des KZ Sachsenhausen. "Wir verließen Auschwitz unter Bewachung durch das Tor, ich an der Hand meiner Mutter."

Corona und Erinnerungskultur

Seit den ersten Tagen im Lager hätten die Kapos auf die Frage, wann man wieder herauskäme, geantwortet: "Seht ihr die Schornsteine dort? Nur durch sie kommt man in die Freiheit, nur durch sie. Es gibt keinen anderen Weg." "Aber ich verließ das Lager durch das Tor!", erinnert sich Bartnikowski. "Zwar nicht in die Freiheit, aber wir waren überzeugt, wenn wir Auschwitz verlassen, würden wir auch nach Hause kommen."

In israelische Fahnen gehüllt gedenken junge Teilnehmerinnen des "Marsch der Lebenden" am Eingang des Konzentrationslagers Auschwitz am 12. April 2018 der Opfer der Schoah.
Junge Teilnehmerinnen des "Marsch der Lebenden" am Eingang des Konzentrationslagers Auschwitz am 12. April 2018Bild: picture alliance/empics/O. Marques

Von all dem konnte Bartnikowski im vergangenen Jahr nicht berichten. Wegen Corona fielen die Treffen mit Jugendlichen aus, andere Veranstaltungen mussten verschoben oder abgesagt werden. Die Pandemie hat die wichtigste Finanzierungsquelle der Gedenkstätte versiegen lassen: Seit 1947 ist sie zum ersten Mal geschlossen, die Besucherzahl schrumpfte im Vergleich zu 2019 auf ein Fünftel.

1,5 Millionen "Follower"

Dafür aber stieg das Interesse am virtuellen Angebot der Gedenkstätte: doppelt so viele Menschen als zuvor statteten Auschwitz einen Online-Besuch ab, in den sozialen Netzwerken hat das dortige, sehr aktive Museum mittlerweile mehr als 1,5 Millionen "Follower". Viele nutzen auch die Online-Seminare der Gedenkstätte. "Diese neuen Entwicklungen sind unumkehrbar - und sie eröffnen Möglichkeiten, die wir nutzen müssen. Aber trotzdem: Was hier am Wertvollsten ist, ist der Ort. Hier zu sein, die persönliche Erfahrung, das kann durch nichts ersetzt werden", betont der Leiter des Internationalen Bildungszentrums bei Auschwitz, Andrzej Kacorzyk.

Schuhe getöteter Kinder im "Stammlager" des KZ Auschwitz am Freitag, aufgenommen am 12. Oktober 2018. Das Konzentrationslager Auschwitz am Staatsgebiet des heutigen Polen war das größte Vernichtungslager des NS-Regimes. Mehr als 1,1 Millionen Menschen verloren dort ihr Leben, rund 900.000 wurden vergast, die übrigen starben an Krankheiten, Hunger, Misshandlungen oder bei medizinischen Versuchen
Schuhe getöteter Kinder im "Stammlager" des KZ AuschwitzBild: picture-alliance/H. Fohringer

Die Vorstellung, dass der "direkte Kontakt, der Blick auf das gesammelte menschliche Haar, der Anblick der Ruinen des Krematoriums, individuell oder mit der Schulklasse erlebt, durch Internet-Ikonen oder virtuelle Besichtigungen ersetzen werden könnte", falle schwer. Zumal in Auschwitz immer wichtige Fragen gestellt werden: Nach Menschenwürde, Achtung, Toleranz. "Ich hoffe, das kommt wieder, denn den Fragen folgen wahre Antworten, wahres Lächeln und wahre Tränen. Das ist das, was ich jetzt am meisten vermisse", gibt Kacorzyk zu: "Auschwitz ermöglicht uns, innezuhalten."

Gedenken ohne Zeitzeugen

Die Digitalisierung des Gedenkens wäre auch ohne Corona auf Auschwitz zugekommen, meint Ewa Fiuk. "Mit dem Lauf der Zeit und dem Verschwinden der Kriegsgeneration und damit der Zeitzeugen verändert sich die Erinnerungskultur fundamental," erklärt die Kulturwissenschaftlerin.

Auschwitz-Überlebende werden am 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers in Gedenkstätte von Journalisten befragt, deren Kameras und Mikrofone rechts im Bild zu sehen sind
Journalisten befragen Auschwitz-Überlebende in der Gedenkstätte am 75. Jahrestag der Befreiung Bild: DW/N. Batalov

Fiuk ist sicher "Wir verlieren etwas - aber wir gewinnen auch etwas dazu." Anfang des 21. Jahrhunderts seien die allermeisten Menschen daran gewöhnt, sich im digitalen Raum zu bewegen. "Vielleicht können wir dort Emotionen ermöglichen, die früher überhaupt nicht möglich waren." Wichtig sei dabei, besonders junge Menschen nicht mit den Eindrücken von Auschwitz alleine zu lassen.

Moderne Werkzeuge nutzen

Gegen die Digitalisierung anzukämpfen sei sinnlos, so Fiuk. "Sinnvoll ist, alle modernen Werkzeuge zu nutzen, denn die Erinnerungskultur passt sich sowieso an diejenigen Formen und Mechanismen an, die Kultur und Alltag prägen." Auch die Gedenkstätte Yad Vashem erinnere dieses Jahr online, virtuelle Dauerausstellung über Auschwitz inklusive.

Bogdan Bartnikowski wartet trotzdem auf das Ende der Pandemie. Sobald die Situation es zulässt, will er seine Reisetätigkeit wieder aufnehmen. "Dann können wir uns auch sehen", schlägt er mir vor. Und bringt damit auf den Punkt, was ich während unseres ganzen Gesprächs spüre: Wie unpassend es ist, mit einem KZ-Überlebenden am Telefon über Auschwitz zu reden.