Eine "Eule": Christine Lagarde seit einem Jahr EZB-Chefin
1. November 2020Ihr erstes Jahr an der Spitze der Europäischen Zentralbank hätte sich Christine Lagarde sicher anders vorgestellt. Doch gerade gut vier Monate im Amt konnte sie ihre ursprüngliche Agenda zunächst nicht weiter verfolgen: Sie wollte den Streit im EZB-Rat schlichten, den "normalen" Bürgern die Geldpolitik näher bringen und die Strategie überprüfen. Doch die Coronakrise erfordert seither die gesamte Aufmerksamkeit der Notenbank.
Anfang November war die Französin angetreten - als erste Frau und Nicht-Ökonomin in dieser Position - und hatte zunächst ihr "Anderssein" betont. Man möge sie nicht an ihren Vorgängern messen. Auf die Frage, ob sie sich eher zu den Falken oder den Tauben zähle - die einen stehen für eine strengere, die anderen für eine lockere Geldpolitik - bezeichnete sie sich selbst als Eule: "Ich mag Eulen. Sie sind sehr weise Tiere", sagte sie damals.
Zwischen überzeugend und unsouverän
In der Krise aber geht es nicht darum, welcher Vogelart man sich zurechnet. "Wenn die Krise das Handeln diktiert, dann kommt es darauf an, die Instrumente treffsicher einzusetzen. Und das hat sie überzeugend gemacht", sagt Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Dekabank. Katers Kollege Carsten Brzeski von der ING Deutschland, ist da etwas zurückhaltender. Souverän habe sie in den ersten Monaten nicht gewirkt, etwa beim Verlesen der Beschlüsse des EZB-Rats oder wenn ihre Antworten in den Pressekonferenzen etwa vage geblieben seien. "Man musste oft den Blog am darauffolgenden Tag lesen, um zu verstehen, wie die Beschlüsse des EZB-Rats gemeint waren", moniert Brzeski.
Das größte Aufsehen erregte die EZB-Präsidentin in der Pressekonferenz Mitte März, nachdem die ersten Corona-Schockwellen auch die Finanzmärkte erreicht hatten: Es sei nicht die Aufgabe der EZB, die Risikoaufschläge zwischen den einzelnen Staatsanleihen der Euro-Mitgliedsländer einzudämmen, sagte sie da - womit sie grundsätzlich Recht hat. Doch tatsächlich wirkt die Geldpolitik so, dass etwa Italien nur geringfügig höhere Zinsen auf seine Staatsanleihen zahlen muss als etwa Deutschland. In der Folge also schossen die Zinsen für italienische Staatsanleihen in die Höhe.
Erst nach einigen klarstellenden Interviews sowohl von Lagarde als auch von ihrem Chefvolkswirt Philipp Lane in den folgenden Tagen beruhigte sich der Finanzmarkt wieder. Das aber auch deshalb, weil die EZB Ende März dann das Pandemie-Anleihekaufprogramm (PEPP) im Volumen von 750 Milliarden Euro nachschob, das sie im Juni dann nochmals ausweitete auf 1,35 Billionen Euro. "Mit dem PEPP war die EZB dann wieder voll in der Spur", sagt Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank.
Geldpolitik erklären
Unter ihrem eher autoritär agierenden Vorgänger Mario Draghi waren allein dessen Äußerungen maßgeblich für professionelle Marktbeobachter, um die weitere geldpolitische Ausrichtung der Notenbank zu erkennen. Lagarde agiert da offener, so sind neben ihren öffentlichen Äußerungen auch die Reden und Interviews des EZB-Chefvolkswirts Philipp Lane wichtig, ebenso aber auch die von EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel. Da legen die EZB-Beobachter jedes Wort auf die Goldwaage, um die nächsten geldpolitischen Schritte zu erahnen.
Die frühere Präsidentin des Internationalen Währungsfonds (IWF) und zuvor noch französische Finanzministerin hatte sich jedoch beim Amtsantritt vorgenommen, den Bürgern die Geldpolitik besser zu erklären. Das dürfte jedoch zunächst nichts an den niedrigen bzw. negativen Zinsen ändern, die vor allem die deutschen Sparer monieren. Verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen will die Notenbank in den nächsten Monaten auch zuhören, um deren Wünsche und Sorgen besser verstehen zu lernen.
Eine erste ECB listens-Veranstaltung fand in der vergangenen Woche statt, bei der Lagarde und Chefvolkswirt Philipp Lane einen Vormittag lang den Ausführungen verschiedener gesellschaftliche Gruppen lauschten. Auch im Dialog mit den Experten will die Notenbank ihre Ausrichtung überprüfen. "Noch ist nicht klar, wohin die Strategie sich entwickelt", sagt Ulrich Kater von der Dekabank. Vermutlich werde aber das Inflationsziel etwas "symmetrischer" ausgerichtet, Preisstabilität würde dann also nach Definition der EZB erreicht sein, wenn die Inflation leicht unter, aber je nach wirtschaftlichem Umfeld auch einmal knapp über zwei Prozent liegt.
Denn Preisstabilität ist das oberste Ziel der Notenbank. Alle anderen Ziele sind dem untergeordnet, so auch die stärkere Ausrichtung auf nachhaltige Geldanlage. Die Geldpolitik müsse auch die Auswirkungen des Klimawandels berücksichtigen, davon zumindest ist Lagarde überzeugt.