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"Eine Frage der Würde" - Menschenrechtler in Russland

Alexey Strelnikov
9. März 2024

Manche Menschenrechtler und Aktivisten bleiben trotz Repressionen des Kremls und der Behördenwillkür in Russland und wollen nicht aufgeben. Warum tun sie das - und welche Zukunft sehen sie für sich selbst in Russland?

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Schatten von Sicherheitskräften auf dem Asphalt bei Protesten in Moskau (Symbolbild)
Schatten von Sicherheitskräften auf dem Asphalt bei Protesten in MoskauBild: Getty Images/AFP/K. Kudryavtsev

Laut dem Menschenrechtsprojekt OVD-Info wurden seit Februar 2022 in Russland bei Antikriegsprotesten etwa 20.000 Menschen festgenommen und in fast 900 Fällen Strafverfahren eingeleitet. Ungeachtet dessen gibt es in Russland Menschenrechtler und Aktivisten, die Russlands Krieg gegen die Ukraine nicht unterstützen und Widerstand gegen die Politik des Kremls leisten. Was gibt ihnen die Kraft? Drei von ihnen erzählen ihre Geschichte.

Anusch: Mit Clownsnase ins Gericht

Die 36-jährige Anusch Panina aus St. Petersburg hatte sich früher, wie sie sagt, "grundsätzlich aus der Politik herausgehalten". Dies änderte sich im Jahr 2020 - angesichts der Massenproteste in Belarus gegen die gefälschte Präsidentenwahl und der Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny. Panina selbst wurde wegen der Teilnahme an Antikriegsprotesten in Russland mehrmals festgenommen und mit einer Geldstrafe belegt.

Der Wunsch, anderen Russen zu helfen, die unter die Räder der Unterdrückungsmaschinerie des Kremls geraten sind, führte sie als Zuhörerin in russische Gerichte. Ihr Markenzeichen ist eine Clownsnase, die sie am Ende von Prozessen aufzieht, wenn das Urteil bereits feststeht. Sie hofft, dass sie auf diese Weise sowohl den Angeklagten als auch anderen Zuhörern im Gerichtssaal ihre Unterstützung deutlich machen kann.

Anusch Panina in einem russischen Gericht mit der schwarzen Clownsnase
Seit dem Tod von Alexej Nawalny trägt Anusch Panina in Gerichten eine schwarze ClownsnaseBild: privat

Mehr als 200 Prozessen hat sie seit 2022 beigewohnt, die nach Artikel 207.3 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation geführt wurden. Den Angeklagten wurde immer vorgeworfen, "Fakes" über die russische Armee verbreitet zu haben. "Ich war bereits in zwei Fällen Laien-Verteidigerin, worauf ich stolz bin", betont Panina.

Im November 2023 wurde die junge Frau während des Prozesses gegen die St. Petersburger Künstlerin Sascha Skotschilenko im Gerichtsgebäude festgenommen. Panina soll angeblich Gesetzesvorschriften missachtet haben, woraufhin der Justizhelfer ein entsprechendes Protokoll aufsetzte. Zudem drehte er Panina den Arm um und zerrte sie in einen Raum. Die Aktivistin musste schließlich ins Krankenhaus gebracht werden, wo bei ihr Verletzungen festgestellt wurden.

Nach anderthalb Jahren Prozessbeobachtung fühlt sich Panina innerlich erschöpft. Aber ans Aufgeben denkt sie nicht. Ihre bislang leuchtende Clownsnase ist seit der Nachricht über den Tod von Alexej Nawalny nun schwarz gefärbt. "In Russland zu bleiben, ist für mich eine Frage der Würde. Es gibt Menschenrechtler im Land, die mich seit meiner ersten Festnahme verteidigt haben. Ich kann doch nicht einfach gehen, während sie hier unter zunehmendem Risiko weiter hart arbeiten", sagt sie.

Natalja: Hilfe für Flüchtlinge aus der Ukraine

Vom ersten Tag der umfassenden Invasion Russlands in der Ukraine an nahm Natalja (Name geändert) Freunde aus der Ukraine in ihrem Haus in St. Petersburg auf. Im Gespräch mit ihnen wurde ihr klar, dass hunderttausende Ukraine-Flüchtlinge mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind. Deswegen beschloss sie, sich Aktivisten anzuschließen. Sie hilft bei der Verteilung von Sachspenden and Flüchtlinge und unterstützt Menschen dabei, Ärzte und Psychologen zu finden.

"Flüchtlinge aus der Ukraine erhalten in Russland einmalig 10.000 Rubel (umgerechnet rund 100 Euro) und müssen dann für sich selbst sorgen", sagt Natalja. Rentner haben es ihr zufolge am schwersten. Nur wenige würden es schaffen, dass sie eine monatliche Rente von etwa 10.000 Rubel bekommen. Der Flüchtlingsstrom nach Russland sei in den vergangenen zwei Jahren aber zurückgegangen, ebenso wie die Spendenbeträge. Gleichzeitig würden aber weiterhin ältere Menschen und Behinderte aus den Frontgebieten nach Russland gebracht, teilweise in Krankenwagen.

In den letzten zwei Jahren hat Natalja auch eigenes Geld ausgegeben, um notwendige Dinge für Flüchtlinge zu kaufen. Für sich selbst lässt sie ein Minimum ihres Einkommens übrig. "Ich bezahle lieber die Medikamente für ein krankes Kind oder Schuhe der Größe 42, als mir neue Kleidung oder ein Parfüm zu kaufen", erzählt sie. Russland zu verlassen, daran denkt Natalja nicht, auch wenn sie mit der Politik der russischen Staatsmacht nicht einverstanden ist. Sie sagt, dass ihre Kräfte und Hoffnungen fast erschöpft seien, aber "solange es Leben gibt", werde sie sich nicht "in ein Grab legen".

Anton: Verteidiger in Verwaltungssachen

Auch der 27-jährige Anton Aptekar engagiert sich für den Schutz von Menschenrechten seit März 2022. Damals verhängten russische Gerichte massenweise Strafen für die Teilnahme an Antikriegsprotesten und Mahnwachen. Aptekar sagt, es sei schwierig, den Erfolg seiner Fälle einzuschätzen - für einige seiner Mandanten habe er eine Entschädigung wegen unzulässiger Inhaftierung gefordert. Die meisten seiner Mandanten seien wegen "Diskreditierung der Armee" oder Verstößen gegen die Regeln für die Durchführung einer Kundgebung schuldig gesprochen worden, hätten jedoch nur eine minimale Geldstrafe erhalten.

Russischer Rechtsanwalt Anton Aptekar vor einem Gebäude
Rechtsanwalt Anton Aptekar engagiert sich für den Schutz von Menschenrechten in RusslandBild: privat

In letzter Zeit gibt es dem Anwalt zufolge nur noch wenige Prozesse, die wegen "Verstößen bei Kundgebungen" im Zusammenhang mit Antikriegsprotesten geführt werden. Immer weniger Menschen würden sich trauen, in Russland auf die Straße zu gehen.

Meist befasst sich Aptekar jetzt mit der Verteidigung in Verwaltungs- und Zivilsachen. Daher sieht er für sich kaum Risiken und will seine Tätigkeit fortsetzen. Aptekar betont, dass es wichtig sei, Mandanten auch seelisch zu unterstützen. Außerdem seien Anwälte Mandanten dabei behilflich, eine Kommunikation mit den Medien aufzubauen. "Die Verhandlung eines Falles vor Gericht ist eine Plattform, auf der ein Mandant und sein Verteidiger über das Geschehen sprechen können, ohne dass dies ins Leere geht", so Aptekar. Er fügt hinzu, er schließe nicht aus, dass seine Erfahrungen in Zukunft, nach grundlegenden Veränderungen in Russland, noch von Nutzen sein werden.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk