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Gesellschaft

"Einsamkeit tut schrecklich weh"

26. Dezember 2017

Gerade an den Feiertagen fühlen sich viele ältere Menschen so einsam wie nie. Eine neue Telefonhotline in Berlin bietet in diesen Tagen deshalb ein offenes Ohr, erzählt Gründerin Elke Schilling.

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Senioren steht am Fenster
Bild: picture-alliance/chromorange/Media for Medical

Deutsche Welle: Weihnachtszeit ist Familienzeit, doch das gilt nicht für alle. Gerade zwischen Heiligabend und Neujahr drückt bei vielen die Einsamkeit aufs Gemüt. Beim Silbernetz-Feiertagstelefon können einsame Senioren in Berlin unter der Nummer 0800/470 80 90 anrufen, wenn ihnen während der Festtage die Decke auf den Kopf fällt. Heiligabend wurde die Hotline freigeschaltet. Sie soll zunächst bis zum 1. Januar laufen. Frau Schilling, wieso dieses Datum?

Elke Schilling: Es gibt keine Jahreszeit, wo Einsamkeit so im Bewusstsein aller ist wie an den Weihnachtsfeiertagen. Es ist die dunkelste und depressivste Jahreszeit. Es ist die Zeit, die öffentlich als die Zeit für die Familie proklamiert wird: Man ist gesellig, man ist lieb und beschenkt einander. Das wird als normal kommuniziert. Und dann sitzt da jemand alleine zu Hause. Wie eine alte Dame, die erzählte, dass ihre Tochter in den Niederlanden lebt und ihre Enkelin auch keinen Kontakt zu ihr pflegt. Sie sagte: "Ich denke, ich werde sterben und keinen Kontakt mehr bekommen." Und das tut schrecklich weh - dieses Abgeschnittensein und diese Unmöglichkeit, den Kontakt neu zu knüpfen. Einsamkeit ist immer schlimm, aber die öffentliche Aufmerksamkeit ist in dieser Jahreszeit am meisten gegeben.  

Wie fällt denn die bisherige Resonanz aus?

Wir hatten rund 80 Anrufe in den ersten 48 Stunden, 22 Mal wurde ein Gespräch geführt. Am Anfang haben wir die Mobilfunkanrufe erst mal außen vor gelassen, weil es uns zu teuer war. Wir müssen ja für diese 0800er-Nummer bezahlen. Doch inzwischen haben wir genügend Spenden bekommen, um auch diese Anrufe finanzieren zu können. 

Was waren das für Anrufer? 

In der Regel sind es ältere Menschen, also 70 Jahre oder älter im Schnitt. Eine Frau, die anrief - ebenfalls über 70 Jahre - wollte Druck loswerden und hat pausenlos geschimpft. Am Ende musste sie sogar über sich selbst lachen. Ich denke, wenn Menschen alleine in ihrer Wohnung sitzen, drehen sie sich oft im Kreis - und da kann sich eine Menge Druck ansammeln. Ein älterer Mann hatte am ersten Tag über Mobilfunk versucht, anzurufen. Nachdem ihm gesagt wurde, dass kein Mobilfunk angenommen werden kann, ist er sogar in eine Telefonzelle gegangen - um von dort zu erzählen, was ihm alles Schlechtes in den vergangenen 30 Jahren widerfahren ist: Er war von seinen Kindern verlassen worden, hatte schlechte Erfahrungen mit Behörden gemacht und einige Erkrankungen durchzustehen. Jetzt weiß er, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Man merkte einfach ganz deutlich: Er hatte niemanden, bei dem er das ablegen kann.

Worin unterscheidet sich Silbernetz von der Telefonseelsorge?

Ich bin viele Jahre lang Telefonseelsorgerin gewesen. Ich schätze die Arbeit der Kollegen sehr. Ich weiß aber auch, dass Einsamkeit nicht das vordringliche Thema der Telefonseelsorge ist. In unserer Gesellschaft wird Einsamkeit oft als etwas gesehen, das selbst verschuldet ist. Es ist ein Tabu, über das eher nicht gesprochen wird. Deswegen sprechen wir es direkt an. Ich bin zudem seit sechs Jahren Seniorenvertreterin hier in Berlin-Mitte. Ich habe mich in dieser Zeit sehr intensiv mit Alter und Begleiterscheinungen des Alters auseinandergesetzt. Mindestens jeder dritte ältere Mensch klagt zumindest gelegentlich über Einsamkeit: Die sozialen Netze dünnen sich aus, Verwandte, Bekannte und Freunde sterben.

Elke Schilling
Elke SchillingBild: picture-alliance/dpa/B.Pedersen

Ich hatte auch eine sehr persönliche Erfahrung: Ich bin vor sieben Jahren in meine Wohnung eingezogen und hatte einen netten, alten Nachbarn, der mir gerne in der Wohnung geholfen hat. Irgendwann war er von der Bildfläche verschwunden. Und dann hing drei Wochen lang ein Pizza-Flyer an seiner Wohnungstür. Da habe ich angefangen, nachzufragen. Nach etlichem Hin und Her mit Polizei und Wohnungsverwaltung ist er dann aus seiner Wohnung getragen worden. Da war er schon drei Monate tot. 

Ich hatte ihm Hilfe angeboten und er hatte es abgelehnt. Das ist keine Seltenheit: Wenn ich in die Einsamkeit schlittere, dann sind Nachbarn oftmals zu nah dran.  Und deswegen nehmen viele die Hilfe nicht an. Das Telefon mit seiner Anonymität ist deshalb genau das richtige Instrument, um sich zu äußern, sich Gehör zu verschaffen, jemanden zu finden, mit dem man reden kann. Daraus ist das Angebot entstanden.

Wobei ich Silbernetz nicht selbst erfunden habe: Es gibt seit vier Jahren in England die Helpline "Silver Line". Ich habe mir die Initiative vor dreieinhalb Jahren in London angeschaut und gedacht: So ähnlich müsste es hier in Deutschland auch gehen. Silbernetz ist - ähnlich wie die britische "Silver Line" - dreistufig. Auf der einen Seite soll ein Rund-um-die-Uhr-Hilfetelefon angeboten werden. Über das Hilfetelefon können dann Silbernetz-Freunde und Freundinnen vermitteln werden. Das sind Ehrenamtliche, die einmal in der Woche anrufen und einen persönlichen Kontakt aufbauen und dann über diese persönliche Kontaktaufnahme wieder Schritte aus der Einsamkeit begleiten können. Sie können dann auf entsprechende Angebote im Stadtteil verweisen - es gibt mehr, als die alten Menschen in der Regel wissen.

Bei Silbernetz sind Ehrenamtliche am Telefon. Was erwartet mich, wenn ich dort anrufe?

Es sind Menschen, die aus sozialen Berufen kommen und schon viel Empathie und Interesse mitbringen. Zudem werden sie für die möglichen Themen geschult, die in einem Gespräch mit vereinsamten alten Menschen kommen können. Sie sind imstande, teilnehmend zuzuhören und jemanden ins Gespräch reinzuholen. Sie können möglicherweise emotional belastende Gespräche so entgegennehmen, dass für beide Seiten dennoch ein gutes Gefühl entsteht.

Das Projekt ist erst mal auf Berlin beschränkt. Gibt es Pläne, es auszuweiten?

Wenn es uns gelingt, hier in Berlin auf die Beine zu kommen, wollen wir das Projekt auch auf andere Bundesländer ausdehnen. Berlin ist auch nicht die Modellstadt für Einsamkeit. Ich habe auch seit Beginn des Projekts mit ländlichen Regionen kommuniziert. Es hieß, dass es dort noch viel stärker benötigt werde. Wir haben zwar auf dem Land andere Sozialstrukturen, aber wir haben auch verdammt viel Einsamkeit - zumal die Versorgungsstrukturen ja auch weggebrochen und ausgedünnt wurden. Gespräche und Tipps sind deshalb mindestens genauso wichtig wie in Berlin.  

Elke Schilling, 73, ist Projektleiterin und Gründerin von Silbernetz. Das Projekt soll sich zunächst auf einsame Senioren in Berlin konzentrieren und später auf andere Regionen ausgedehnt werden. Wissenschaftlich begleitet wird das Projekt von der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin. 

Das Gespräch führte Stephanie Höppner.

Stephanie Höppner Autorin und Redakteurin für Politik und Gesellschaft