Emmanuel Macron, das Enfant terrible der NATO
3. Dezember 2019Wer seine Familie öffentlich als "hirntot" bezeichnet, der kann sich auf peinliches Schweigen am vorweihnachtlichen Gabentisch in London gefasst machen. Oder es bricht ein richtiger Familienstreit aus. Der könnte dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron beim NATO-Treffen blühen, wo die Allianz eigentlich ihren runden Geburtstag zelebrieren wollte. Die Diagnose, die er Ende Oktober in "The Economist" ausbuchstabiert hat, hat für Aufregung gesorgt - überall. "Genau das wollte der französische Präsident auch: Eine Diskussion anregen", meint Claudia Major. Sie forscht seit Jahren zur Verteidigungspolitik Europas an der Stiftung für Wissenschaft und Politik in Berlin. "Ob die Debatte um die Zukunft der NATO und Europas Verteidigung in dieser Weise konstruktiv eingeleitet wurde, ist eine andere Frage.”
Das Macron'sche Rezept
Doch Macron ist ein ungeduldiger Politiker. Der Zukunft muss man entgegen eilen, denkt Macron. Also: Drastische Worte! Disruption! En Marche! Auf dem Weg! So gewann er als politischer Außenseiter überraschend die Präsidentschaftswahl 2017. Auch seine Autobiografie heißt, in für Macron typischer Unbescheidenheit, "Révolution".
Nun will er eine Revolution der europäischen Verteidigungspolitik. Denn laut Macron sei auf die Amerikaner als Garant atlantisch-europäischer Sicherheit immer weniger Verlass. Zunehmend wenden sie sich außenpolitisch dem Pazifik zu. Die Europäer sollten ihre Verteidigung in die eigenen Hände nehmen, sonst drohe ihnen die geopolitische Irrelevanz.
"Irgendwo ist seine Strategie aufgegangen", meint Frédéric Encel, Dozent an der Pariser Universität Sciences Po, "weil Emmanuel Macrons etwas übertriebene Äußerungen eine deutsche Reaktion ausgelöst haben. Das war das Ziel, die Debatte anzuregen, Positionen klar zu machen - besonders bei den Deutschen."
Für Europa aber nicht mit Europa
Die europäischen Partner sind über Macrons Alleingang jedoch verärgert. "Man wirft ihm vor, er hätte den Anspruch für Europa zu sprechen, würde aber nicht mit Europa sprechen", sagt die Verteidigungsexpertin Claudia Major. In Polen und in den baltischen Staaten fühle man sich direkt bedroht von Macrons Vorstellungen. Hier gilt die NATO noch immer als die einzige Lebensversicherung gegen den großen, zunehmend bedrohlichen russischen Nachbarn. Erst verkündet Macron seine Absicht, die Beziehungen zu Russland zu normalisieren. Und nun das. "Gefährlich" seien die Worte des Franzosen, sagte Polens Premier Mateusz Morawiecki.
Deutschland: Keine Experimente
In Deutschland reagierte man auch ablehnend. Und somit hat sich ein Muster wiederholt, das die deutsch-französischen Beziehungen seit Macrons Amtsübernahme prägt: Macron legt stets grandiose Visionen für einen europäischen Neuanfang auf den Tisch… Und die Deutschen bremsen ab.
Dem disruptiven und machtvollen Macron fehle es an einem deutschen Gegengewicht. Schlechtes Timing, erklärt Claudia Major von der Stifung für Wissenschaft und Politik in Berlin. Als Emmanuel Macron im Mai 2017 Präsident wurde, war in Deutschland Wahlkampf. Nach der Wahl dauert es dann weitere sechs Monate, bis eine Regierung stand. Die Autorität von Kanzlerin Merkel schwindet und die von ihr geleitete Koalition bröckelt. "Keine Experimente": Der Slogan der CDU aus den Fünfziger-Jahren scheint in Deutschland wieder zeitgemäß. Frustriert, nachdem er vergeblich auf die Unterstützung der Kanzlerin für seine Reformvorhaben gewartet hat, geht Macron nun dem Konflikt mit Berlin nicht mehr aus dem Weg.
Macron will die Grundsatzdebatte erzwingen
"Genau das sieht man jetzt in der Debatte um den vermeintlichen NATO-Hirntod", findet Major. Traditionell sind sich Frankreich und Deutschland ohnehin uneinig. In Frankreich ist man skeptisch gegenüber der NATO. Man denkt, man könne es vielleicht auch allein, ohne die Amerikaner. Anders als Deutschland hat das Land Atomwaffen. Die Deutschen verlassen sich bei der atomaren Abschreckung und weite Teile der eigenen Verteidigung auf dem großen Bruder aus Amerika. Die NATO spielt dabei eine Schlüsselrolle.
Deutsche Politiker beider Regierungsparteien haben sich von den Wörtern des aufmüpfigen Macrons abgegrenzt. "Der französische Präsident hat drastische Worte gewählt, das ist nicht meine Sicht", betonte Angela Merkel unmittelbar nach der Veröffentlichung des Interviews.
Dass man in Berlin keinen Streit unter Europäern möchte, liegt auch daran, dass sich schon genug unbequeme Verwandte für die Bescherung am 4. Dezember angekündigt haben. US-Präsident Donald Trump, nicht gerade ein großer NATO-Liebhaber, wird gestresst von der Impeachment Prozedur in London anreisen. Neben wen wird man den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan setzen, der unlängst vom NATO-Gegner Russland Luftabwehrraketen abgekauft hat? Kann sich der britische Premier und Gastgeber Boris Johnson knapp eine Woche vor den Wahlen in Großbritannien noch auf etwas anderes konzentrieren als den eigenen Bauchnabel? Trotzdem: Macron will die Grundsatzdiskussion erzwingen.
Viel Streit um Form, wenig um Inhalt
Geht Macrons Strategie auf? Über die Form der drastischen Hirntod-Diagnose wurde viel gestritten. "Dass Macron so eine Debatte in der Öffentlichkeit anstiftet, ist echt problematisch", sagt Verteidigungsexpertin Major. "Denn militärische Abschreckung funktioniert auch psychologisch - es ist die Überzeugung, dass die Anderen kommen, wenn einer angegriffen wird. Wenn die NATO als Bündnis sich öffentlich politisch zerlegt, schwächt es die Glaubwürdigkeit der Abschreckungsbotschaft nach außen."
Die übertriebene Wortwahl Macrons hat auch dazu geführt, dass sich wenige politische Entscheider zu dem eigentlichen Kern seiner Kritik geäußert haben. Dabei trafen Macrons Erläuterungen mit chirurgischer Präzision den wunden Punkt. Hinter verschlossenen Türen stimmen ihm viele NATO-Diplomaten zu.
Die Allianz hat ein tiefgehendes politisches Problem. Und das ist nicht (nur) die Unzuverlässigkeit und zunehmende Unberechenbarkeit von Trumps Amerika. Es ist eher ein Mangel an strategischer Weitsicht. Die Europäer haben kein strategisches Konzept, wie sie sich in zehn, fünfzehn Jahre verteidigen wollen - wenn sich die Amerikaner weiter aus Europa zurückziehen.
Die Revolution bleibt aus
Immerhin geht es der NATO militärisch gut. Sie ist und bleibt das mächtigste Militärbündnis in der Geschichte. Die Verteidigungsbudgets steigen nach 25 Jahren zum ersten Mal wieder. Das beteuert Jens Stoltenberg, der NATO-Generalsekretär immer wieder, wenn er auf Macrons Kritik angesprochen wird - und ignoriert so das eigentliche Problem, die politische Zielrichtung.
Deutschlands Außenminister Heiko Maas will eine Expertenkommission einsetzen, die der NATO in den nächsten Monaten wieder ein wenig Orientierung geben soll. Weder der französische Geopolitik-Experte Frédéric Encel noch die deutsche Wissenschaftlerin Claudia Major glauben, dass eine Kommission das langjährige Problem beheben kann. Major nennt es eine Notmaßnahme zur Deeskalation, die einen Eklat auf dem Gipfel noch gerade so einfangen kann.
Auch das Treffen von NATO-Generalsekretär Stoltenberg mit Macron am vergangenen Donnerstag änderte nichts. Macron feierte sich für den Lärm, den er verursacht hat. Aber die Partner sind dagegen verunsichert, ob auf ihn noch Verlass ist. Sie hoffen darauf, dass die Debatte versandet. Wenig Perspektiven für eine (Macron'sche) Revolution in London, also. Der Franzose sitzt in der Ecke und schmollt. "Er ist ganz allein, er ist allein in Europa, und er ist allein in der NATO", sagt Frédéric Encel aus Paris.
Streit beim Familienessen ist unangenehm. Ein Familiengeheimnis, das wie der sprichwörtliche Elefant nicht nur im Raum steht, sondern mitten auf dem Weihnachtstisch sitzt, ist sogar noch schlimmer.