Vorbild Rhein-Hunsrück
13. November 2017"Rhein-Hunsrück?" Diesen Namen musste sich Francis Boateng Agyenim aus Ghana ein paar Mal am Telefon buchstabieren lassen, bevor er ihm flüssig über die Lippen ging. Jetzt, wenige Stunden nach seiner Ankunft in Deutschland, steht er mitten drin, im Landkreis mit dem entsprechenden Namen. Mit einer kleinen Besuchergruppe klettert er über eine Wendeltreppe einen Aussichtsturm hinauf. 48 Stufen geht es nach oben, dann öffnet sich ein spektakulärer 360-Grad-Rundumblick, hoch über den Baumwipfeln des Hunsrücks.
Neben Wäldern, Getreidefeldern und kleinen Dörfern sieht der Direktor des Instituts für Industrie-Recherche aus Ghana vor allem eines: Windräder, wohin das Auge reicht. Insgesamt 300 Windrad-Kolosse wurden in den vergangenen 20 Jahren im Kreisgebiet aufgestellt. Es ist der auf den ersten Blick eindrucksvollste Beweis, dass hier die Energiewende angepackt wird.
In 20 Jahren - von Null auf 100 in Sachen Energiewende
In unmittelbarer Nähe des Aussichtsturms ist der Windpark Ellern, mit einigen der leistungsstärksten Windrädern der Welt. Rund ein Fünftel der Strommenge, die im Rhein-Hunsrück-Kreis jedes Jahr verbraucht wird, produzieren allein die zehn hier platzierten Windräder. Francis Boateng Agyenim ist begeistert, im Gegensatz zu manchem Anwohner, der sich durch den Anblick der Stahlkolosse gestört fühlt.
"Wunderbar, wie die Energie vor Ort produziert und auch direkt genutzt werden kann", sagt der Leiter der regierungsnahen Denkfabrik des westafrikanischen Landes. Er sammelt in Deutschland Ideen, wie in den ländlichen Regionen seiner Heimat Fabriken an Strom kommen können: dezentral und klimafreundlich. Besonders oft wurde ihm von diesem kleinen, innovativen Landkreis in Rheinland-Pfalz erzählt.
Alt-Landrat Bertram Fleck, der vor seiner Pensionierung den Umbau der Region zum Klimaschutz-Vorreiter angestoßen hat, begleitet den Gast auf seiner Tour durch den Rhein-Hunsrück-Kreis. Fleck will vermitteln, dass Energiewende mehr ist als diese Windräder, und seien sie optisch auch noch so beeindruckend.
"Unsere Bürger haben 4.200 Fotovoltaik-Anlagen gebaut, 18 Nahwärmeverbünde, es fahren Elektroautos und wir beteiligen uns an einem Smart-Grid-Projekt, das Stromnetze intelligent macht, um die Schwankungen von Wind- und Sonnenenergie auszugleichen", erklärt Fleck seinem Gast.
Und auch unter seinem Nachfolger, Landrat Marlon Bröhr, setzt der Landkreis diese Ideen weiter um. "Ich meine eigentlich, jeder Landkreis und jede Kommune könnte das machen", so Fleck.
Besucher aus über 34 Ländern der Welt
Inzwischen wird hier zwischen Hunsrück und dem UNESCO-Weltkulturerbe Mittelrheintal drei Mal so viel erneuerbarer Strom produziert, wie die 102.000 Einwohner selbst verbrauchen. Das hat vor diesem strukturschwachen Landstrich noch keine andere Region in Deutschland geschafft, weshalb sie sich rechtzeitig zu den Klimaschutzverhandlungen in Bonn mit einem ganz besonderen Titel schmücken wollen: Erster Null-Emissions-Landkreis im deutschen Binnenland. Mit dem Überschuss-Strom kann die ländliche Region auch nah gelegene Städte wie Mainz mit grünem Strom mitversorgen, weil dort weniger Platz fürs Aufstellen von Ökostromkraftwerken ist.
Neben Francis Boateng Agyenim aus Ghana macht das auch andere neugierig. Mehr als 34 Besuchergruppen aus aller Welt sind hierher gereist, um zu verstehen, wie ein solcher Wandel organisiert, finanziert und dann vor allem mit den Bürgern gemeinsam umgesetzt werden kann.
Sie kommen aus Kanada, Frankreich und Großbritannien, aus Serbien, der Ukraine oder Japan. Und wie für den Gast aus Ghana wird für sie dann eine Tour durchs Kreisgebiet organisiert, um das Klimaschutzkonzept in der Praxis zu zeigen: geschrieben von über 300 Bürgern und umgesetzt in mehr als 90 Einzelmaßnahmen.
Lokale Wertschöpfung: Das Geld für den Heizölhändler sparen
Nächste Station dieses Besuchs: die Mülldeponie Kirchberg nahe der 8.000-Einwohner-Stadt Simmern. Altlandrat Bertram Fleck will beweisen, wie aus anfänglich kleinen Ideen etwas Großes entstehen kann. Inmitten einer großen Freifläche zeigt er auf einen Berg von Baum- und Strauchschnitt. Holzreste, die auf diesem Platz kleingehäckselt und von der Sonne getrocknet werden. Francis Boateng Agyenim greift mit seiner Hand kraftvoll in den Holzberg, lässt die kleinen Biomasse-Reste durch seine Finger rieseln.
Gesammelt wurde dieser Rohstoff an 120 Stationen im Kreisgebiet, als Abfall aus den Gärten der Bürger. Über zehn Jahre wurde daraus Kompost gemacht, bis immer mehr Menschen eine Frage stellten, erinnert sich Fleck: "Wieso schicken wir Millionen an Euros nach Russland oder in arabische Länder, wenn wir einen Großteil an Energie selber erzeugen können?" Der Kreis gab eine Studie in Auftrag, die Erstaunliches zu Tage förderte: Jedes Jahr überwiesen Privatleute, Unternehmen und die öffentliche Hand im Kreisgebiet 290 Millionen Euro an Heizölhändler und Stromkonzerne. Jetzt war klar: Die heimischen Holzreste sind bares Geld wert – und sie sind gut fürs Klima.
Inzwischen wurden in über 37 Schul- und Kreisgebäuden die Öl- und Gasheizungen durch Hackschnitzelheizungen ersetzt. Allein drei Schulzentren mit über 30 Gebäuden werden so beheizt. Ein klimafreundlicher Nahwärmeverbund ist entstanden, betrieben durch die Kreis-eigene Firma Rhein-Hunsrück-Entsorgung.
"Wir sparen pro Jahr 800.000 Liter Heizöl, bezogen auf 20 Jahre sind das elf Millionen Euro, die als Geldbetrag in der Region bleiben, die wir früher an einen Heizölhändler überwiesen haben", rechnet der Alt-Landrat vor.
Das inspiriert den Institutsdirektor aus Ghana, seine Schlüsse für das westafrikanische Land zu ziehen. "Wir untersuchen bei uns gerade, wie organische Abfälle aus der Geflügelhaltung desinfiziert und als Energiequelle genutzt werden können", erklärt Francis Boateng Agyenim. "Wenn ich das hier so sehe, glaube ich, wir sollten dranbleiben!"
Wissenstransfer zwischen Vorreiter-Regionen
Alt-Landrat Fleck ermuntert seinen Gast, Dinge auszuprobieren, in kleinen Schritten, aber mit viel Offenheit für neue Ideen. Der Kollege aus Ghana könne vielleicht nichts mit der Idee des Nahwärmeverbundes anfangen. Aber, wie die Bürgermeister den Prozess organisieren und wie die Bürger mit ins Boot zu holen seien, das seien Gedanken, die würden in Serbien passen, genauso wie in den Malediven oder in Taiwan. "Und wenn er statt dem Nahwärmeverbund eine Kühlkonstruktion daraus macht, dann ist das für den Klimaschutz auch ok."
Wie gut der Wissensaustausch zwischen Regionen bereits funktioniert zeigt das Beispiel Rhein-Hunsrück. Hier übernahm die Landkreisverwaltung eine Idee aus dem kanadischen Ontario und hilft seitdem sozialschwachen Haushalten beim Energiesparen. Energiespar-Checks werden angeboten, ebenso wie Wettbewerbe, bei denen der älteste Kühlschrank gesucht und kostenlos gegen einen neuen ersetzt wird.
Die Kanadier wiederum ließen sich in Rheinland-Pfalz beraten, wie ein Klimaschutzkonzept aussehen kann. So ist inzwischen ein engmaschiges Netz entstanden.
Aus Frankreich und Großbritannien kamen Interessierte, um zu verstehen, wie ein Nahwärmenetz zusammen mit Bürgern entworfen, finanziert und umgesetzt werden kann. Und aus Japan reiste sogar eine Filmcrew an. So wurden die Energiewende-Macher aus Deutschland zu Hauptdarstellern in einem Kinofilm – und entsprechend bekannt in der japanischen Anti-Atomkraft-Bewegung.
Ein Resultat daraus ist eine neue Partnerschaft zwischen dem Rhein-Hunsrück-Kreis und der japanischen Stadt Miyama. Beide Regionen gelten als strukturschwach, beide leiden an Bevölkerungsschwund. Und beide Regionen wollen gemeinsam ausloten, wie Klimaschutz unter solchen Bedingungen gelingen kann.
Regionale Partnerschaften als Schlüssel
Francis Agyenim aus Ghana ist jedenfalls überzeugt, dass die Energiewende-Macher aus dem Rhein-Hunsrück-Kreis jetzt nicht die Hände in den Schoß legen sollten. "Die Welt braucht euer Wissen, nicht nur eure kleine Region und eure Dörfer", sagt er zum Abschied. "Kommt nach Ghana und teilt eure Ideen, und wo es gebraucht wird, bietet Unterstützung an." Ein breites Grinsen ist auf seinem Gesicht zu sehen, als die kleine Besuchergruppe dann beginnt, erste Ideen für eine mögliche Regional-Partnerschaft auszutauschen.