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Engel mit orangefarbenem Halsband

Martin Schrader22. November 2002

Die Documenta hat einen hohen Anspruch. An sich selbst genauso wie an ihre Gäste. Sie beschäftigt deshalb fast 100 "Guides", die den Besuchern diese gewaltige Kunst-Ausstellung erklären sollen.

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Halbzeit bei der Documenta in KasselBild: DW

"13, 14, 15". Gregor Kanitz zählt die Teilnehmer seiner Gruppe, die er an diesem Samstagvormittag durchs Fridericianum führen soll, nocheinmal ab. Dabei blickt er sie freundlich durch seine schwarze, ovale Brille an und stellt schließlich fest: "Wir sind vollzählig, dann kann es ja losgehen." Der 30-jährige ehemalige Kunststudent trägt schwarze Schuhe, schwarze Jeans, ein graues Hemd und um den Hals ein orangefarbenes Halsband. Daran baumelt, wie bei allen Documenta-Offiziellen, der Ausweis mit Pass-Bild und seinem Namen.

Kanitz nimmt seiner Truppe, die vor allem aus Pärchen besteht, noch die 4 Euro teuren Eintrittskarten ab. Sie mussten zusätzlich zur Eintrittskarte für 16 Euro gekauft werden. Dann führt er sie durch die Hintertür in die Eingangshalle, denn vor dem Gebäude steht schon eine lange Schlange, in der sich die Teilnehmer der Führungen nicht anzustellen brauchen.

"Dies ist der Ursprungsort der Documenta", beginnt der "Guide" seinen Vortrag und referiert kurz die 47-jährige Geschichte der Ausstellung. Schnell schlägt er einen Bogen zum Konzept der Documenta 11, berichtet von den vier Plattformen in Wien, Neu Delhi, Santa Lucia und Lagos. "Dort trafen sich viele schlaue Leute", so Kanitz, "dabei waren Philosophen und andere Wissenschaftler." Sie hätten Themen diskutiert wie die 'Demokratie als unvollendeter Prozess' oder 'Rechtssysteme im Wandel und die Prozesse der Wahrheitsfindung und Versöhnung'. Diese Themen seien in die fünfte Plattform, nämlich die Ausstellung der Kunstwerke in Kassel, eingeflossen.

"Menschen in Gefahr"

This could be you von Leon Golub, Künstler der Documenta 11 in Kassel
Leon Gollup, "This could be you"Bild: Documenta

Für die Kunstwerke bleiben nun etwa 50 Minuten Zeit. Das ist nicht viel, denn im Fridericianum sind Arbeiten von mehr als 30 Künstlern ausgestellt. Kanitz präsentiert deshalb nur einige von ihnen, wie zum Beispiel den 80-jährigen Leon Golub. Sein Thema sind Gewalt und der Mensch in Gefahr. Beinahe erstaunt stellen einige Betrachter fest, dass Gollup konventionell mit Leinwänden arbeitet und diese mit Lack- und Acrylfarben bemalt. Anschließend malträtierte er sie freilich mit Lösemitteln und Metzgerbeilen. Damit möchte der in New York lebende Künstler das Leid von Menschen veranschaulichen, die menschenverachtenden Ideologien zum Opfer fielen und ausgelöscht wurden oder, wie Gollup es in großen Buchstaben auf seinen Kunstwerken ausdrückt: "WE CAN DISAPPEAR YOU!"

Es gibt also tatsächlich noch Bilder auf der Documenta, allen anderslautenden Gerüchten zum Trotz. Sie sind aber in der Minderheit. Genau genommen haben sechs der 116 Documenta-Künstler konventionelle "Bilder" zu der Schau beigesteuert. Alle anderen sind mit Plastiken, Videos, Fotos oder Konzept-Kunstwerken vertreten. Dazu gehören auch die eingerahmten Aktenblätter, die aus der Gründung einer Aktiengesellschaft der Bamberger Künstlerin Maria Eichhorn stammen. Das besondere an ihrer Aktiengesellschaft: Sie duldet keinen Kapitalzuwachs und pervertiert so das eigentliche Prinzip dieser gewinnorientierten Unternehmensform. Bei Konzept-Kunstwerken wie diesem, erklärt Kanitz, sei nicht die künstlerische Gestaltung von Bedeutung, sondern die Idee.

Zu ignorant?

Mittlerweile ist es 11.30 Uhr, und an diesem 56. von 100 Documenta-Tagen, ist es so voll im Fridericianum, dass keiner der Besucher ungestört vor einem der Exponate stehen, es anblicken oder sich gar darin vertiefen könnte. Nicht selten passiert es, dass zwei "Guides" mit ihren 15-köpfigen Gruppen in einem Raum stehen. Zwischen diesen Menschentrauben tummeln sich außerdem zahllose Kunstinteressierte, die versuchen, sich den Exponaten ohne kundige Anleitung zu nähern. Einigen scheint dies zu misslingen, wie man an ihren Gesprächen erkennt. "Vielleicht sind wir zu ignorant", fragt ein großgewachsener Mann um die 30 seinen Begleiter, als sich die beiden durch den Raum des Japaners On Kawara schieben. Der Kunst-Tourist klingt dabei etwas resigniert.

Dieter Roth: Grosse Tischruine, Documenta 11 in Kassel
Dieter Roth, "Grosse Tischruine"Bild: Documenta

So geht es wohl auch vielen anderen Documenta-Fans, in denen Fragen aufsteigen, auf die sie keine Antworten erhalten. Warum passiert man zum Beispiel Isa Genzkens "Spiegel" und danach Arbeiten des Inders Amar Kanwar und der in Paris lebenden Israelin Eyal Sivan, schiebt sich durch Dieter Roths "Arbeitszimmer", bevor man schließlich, ob man will oder nicht, in eine Video-Installation von Jeff Geys gelangt? Was verbindet ihre Werke? Für Antworten auf solche Fragen fehlen auf der Documenta 11 der Raum und auch die Zeit, denn die Neugierde zieht einen schnell weiter. In den anderen Räumen wartet schließlich eine scheinbar unendliche Menge weiterer Sehenswürdigkeiten.

Am Ende solcher Führungen haben die Besucher vor kaum einem Kunstwerk innegehalten, kaum eines davon genießen und sicherlich nur wenige verstehen können. Aber eines haben ihnen die Documenta-"Engel" mit auf den Heimweg gegeben: Eine Idee davon, was zeitgenössische Künstler von allen fünf Kontinenten unserer Erde im Jahr 2002 zu bieten haben.