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Politik

Vitali Schischow: Vieles spricht gegen Suizid

Igor Burdyga Kiew
5. August 2021

Der belarussische Oppositionelle Vitali Schischow wurde in der Ukraine erhängt aufgefunden. Nun melden sich Freunde und Mitstreiter zu Wort. Einen politischen Mord schließt auch die Kiewer Polizei nicht aus.

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Ukraine: Kundgebung mit Fotos des Toten vor einem Metallzaun
Gedenken an den Aktivisten Vitali Schischow in Kiew nahe der belarussischen BotschaftBild: Vladimir Shtanko/AA/picture alliance

Suizid oder vorsätzlicher Mord, der als Selbsttötung getarnt wurde. In diese beiden Richtungen ermitteln nach Angaben des Kiewer Polizeichefs Ihor Klymenko die ukrainischen Behörden nach dem Tod von Vitali Schischow. Der belarussische Exilant und Vorsitzende der zivilgesellschaftlichen Organisation "Belarussisches Haus in der Ukraine" (BHU) wurde am Morgen des 3. August in einem Waldgebiet am Stadtrand der ukrainischen Hauptstadt Kiew erhängt aufgefunden. Einen Tag zuvor soll der 26-Jährige von einem nahe gelegenen Hochhaus zum Joggen aufgebrochen und nicht mehr zurückgekommen sein.

Anzeichen für gewaltsamen Tod?

"Nach dem Mittagessen begannen wir uns Sorgen zu machen. Vitali war nicht jemand, der sich einfach verläuft oder den Kontakt abbricht. Er war verantwortungsbewusst und ausgeglichen", sagte der DW ein Aktivist, der aus Angst um sein Leben ungenannt bleiben möchte. Polizisten, Freunde und Freiwillige durchsuchten daraufhin den Wald bis spät in die Nacht. Erst am Morgen wurde Schischows Leiche anhand seines Mobiltelefons geortet.

Seitens des BHU heißt es, der Tote habe eine gebrochene Nase, was auf einen gewaltsamen Tod schließen lasse. Die Polizei widerspricht diesen Informationen. Ihr zufolge gibt es aber an Körper und Gesicht Kratzer, die auf einen Sturz hinweisen könnten. Ferner weisen die ukrainischen Behörden darauf hin, dass die Diskrepanz zwischen der Körpergröße des Toten, der Höhe des Astes, an dem die Leiche hing, und der Länge des Seils gegen einen Suizid spräche.

Neues Zuhause in Kiew

Vitali Schischow stammt aus der belarussischen Region Gomel. Im August letzten Jahres nahm er an lokalen Protesten gegen das Regime von Alexander Lukaschenko teil und sah sich schon bald gezwungen, nach Kiew zu emigrieren. Dort arbeitete er als Programmierer und lebte mit seiner Freundin in einer Vorstadt.

Rodion Batulin, Mitbegründer des BHU, sagt, er habe Schischow im November 2020 kennengelernt: "Vor der belarussischen Botschaft hatten Belarussen eine Gedenkstätte für Roman Bondarenko eingerichtet, die jemand in der folgenden Nacht weggeräumt hatte. Spontan wurde eine Wache zu ihrem Schutz organisiert. Ich schloss mich ihr an und dabei lernte ich Vitali besser kennen. Wir halfen belarussischen Migranten und machten auf die Verbrechen des Minsker Regimes aufmerksam."

Der 31-jährige Aktivist Roman Bondarenko wurde im November 2020 im Innenhof seines Hauses in Minsk von maskierten Männern zusammengeschlagen. Am nächsten Tag erlag er seinen Verletzungen in einem Krankenhaus. Das Europäische Parlament verurteilte den Mord an Bondarenko scharf und machte das Lukaschenko-Regime dafür verantwortlich.

Minsk: Ein Mensch kniet vor einer großen Anzahl Kerzen und Blumen
Gedenken an Roman Bondarenko in MinskBild: Viktor Tolochko/dpa/Sputnik/picture alliance

Rodion Batulin ist professioneller Mixed-Martial-Arts-Kämpfer und lebte schon länger als Schischow in der Ukraine. Aus seinen Kontakten zur rechtsradikalen Bewegung um das "Regiment Asow" und einem der Anführer, dem Belarussen Sergej Korotkich, der seit 2015 die ukrainische Staatsbürgerschaft hat, macht er keinen Hehl. Das Regiment Asow war eines der vielen paramilitärischen Freiwilligen-Bataillone, die seit 2014 im Osten der Ukraine gegen pro-russische Separatisten vorgegangen waren. Batulin betont jedoch, nicht selbst in der Ost-Ukraine gekämpft zu haben.

"Schischow war alles andere als ein Rechtsradikaler"

Der tot aufgefundene Schischow dagegen habe nichts mit rechtsradikaler Ideologie zu tun gehabt, betonen Bekannte. Er habe alles getan, um Migranten zu helfen, er habe Aktionen gegen das Lukaschenko-Regime unterstützt und die Behörden gebeten, der belarussischen Diaspora in der Ukraine beizustehen, heißt es aus dem BHU.

Frauen im Regiment Asow in der Ukraine

Wjatscheslaw Siwtschik, Führer der belarussischen Solidaritätsbewegung "Rasam", meint jedoch, das BHU sei in gewisser Weise einer Kooperation mit der rechtsradikalen ukrainischen Partei "Nationales Corps" und dem Asow-Netzwerk zugeneigt. So habe das BHU auf seiner Website gemeinsame militärisch-taktische Übungen mit dem Asow-Klub "Avangard" angekündigt. Letztlich hatten auch Aktivisten des "Nationalen Corps" bei der Suche nach Vitali Schischow geholfen.

Schischow und Batulin haben ferner die Wohltätigkeitsstiftung "Belarussische Diaspora" mitgegründet. Batulin zufolge sammelt die Stiftung aber keine Spenden. Sie sei vielmehr geschaffen worden, um "den Namen zu sichern" und andere Migranten daran zu hindern, "die Bezeichnung Diaspora für sich auszunutzen".

Politische Flüchtlinge in Gefahr

Am Dienstagabend versammelten sich belarussische politische Emigranten vor der Botschaft ihres Heimatlands in Kiew, um dem toten Aktivisten zu gedenken. Fast alle von der DW befragten Oppositionellen gehen davon aus, dass Vitali Schischow vom belarussischen Geheimdienst getötet wurde.

Porträt von Vitali Schischow in einem Park
Vitali Schischow in KiewBild: RBC-Ukraine/REUTERS

Ein Gesprächspartner der DW vom BHU sagt, Schischow habe bemerkt, dass er beobachtet und verfolgt wurde: "Wir wurden sowohl von lokalen Quellen als auch von unseren Landsleuten in Belarus mehrfach vor Provokationen gewarnt, auch vor Entführung und Tötung." Vitali habe solche Warnungen mit Humor genommen und gesagt, das BHU würde dann vielleicht aus seinem "Informationsvakuum" herauskommen, heißt es in einer Mitteilung der Organisation. Die Kiewer Polizei versichert jedoch, sie habe keine Hinweise auf eine Überwachung des Aktivisten erhalten.

Auch der Oppositionelle Siwtschik sagt, dass sich belarussische Exilanten in Kiew nicht ganz sicher fühlen. Er erinnert an den Tod des Journalisten Pawel Scheremet und andere politische Auftragsmorde: "Vielleicht ist die Ukraine deshalb für die meisten dieser Migranten nur Transitland." Siwtschik wünscht sich, dass die ukrainischen Behörden die politischen Attentate gründlicher untersuchen. "Allerdings gibt es weder in Kiew noch in London ein Gefühl der Sicherheit, wenn man es mit Geheimdiensten zu tun hat, die wie Terrororganisation agieren", räumt er ein.

Ukraine: Blumensträßue und ein Fotoplakat von Journalist Pawel Sheremet
"Wer hat Pawel getötet?" Gedenkort für den ermordeten belarussischen Journalisten Pawel Scheremet in KiewBild: picture-alliance/ZUMAPRESS/S. Glovny

Rodion Batulin glaubt, dass die belarussische Opposition trotz dieses Risikos von der Ukraine viel lernen könne: "Es ist ein Land mit vielen russischen Agenten, auch unter den Ukrainern selbst. Aber es gibt kein besseres Vorbild, um Erfahrungen mit Protest, Regimesturz und Freiwilligen-Bewegungen zu sammeln", sagt er.

Bellingcat will umgehend Nachforschungen anstellen

Das internationale investigative Recherchenetzwerk Bellingcat kündigte unterdessen Nachforschungen zum Tod von Vitali Schischow an. Das sagte der bulgarische Investigativ-Journalist Christo Grozev dem russischen Sender "Echo Moskwy".

Grozev hat keine Zweifel, dass dies kein Selbstmord war. "Dass wir davon ausgehen können, dass es sich um eine Geheimdienstoperation handelt, liegt daran, dass wir seit mehreren Tagen an Informationen arbeiten, wonach es russische FSB-Offiziere in Kiew gibt, die sich in die oppositionellen belarussischen Gruppen in der Ukraine eingeschleust haben", sagt Grozev. "Das bedeutet, dass wir jetzt alle unsere Ressourcen darauf richten, diesen Mord zu untersuchen, wenn es sich um einen Mord handelt."

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk