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Ernst: "Ein Fiasko"

Anne Allmeling10. Oktober 2014

Der türkische Präsident Erdogan steht international in der Kritk, weil er nicht stärker gegen die IS-Terrormiliz vorgeht. Doch viele Sunniten sehen im Assad-Regime die größere Gefahr, meint Nahost-Experte Oliver Ernst.

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IS-Kämpfer vom FBI gesucht (Foto: Reuters/FBI)
Bild: Reuters/FBI

DW: Wer ist für den türkischen Präsidenten Erdogan der größere Feind: die IS-Terrormiliz oder Syriens Präsident Bashar Al-Assad?

Ernst: Das kann man nicht miteinander vergleichen. Aus sicherheits- und außenpolitischer Perspektive sind das zwei komplett unterschiedliche Szenarien. Der Konflikt mit dem "Islamischen Staat" ist asymmetrisch, genau wie der Jahrzehnte lange Kampf der Türkei gegen die Kurdenmilizen, vor allem gegen die PKK. Dagegen hat der Konflikt mit Assad den Charakter eines Stellvertreterkrieges. Hinzu kommt noch die innenpolitische Dimension: Der "Islamische Staat" hat bei Teilen der türkischen Bevölkerung eine gewisse Reputation als Gegner-Organisation zum Assad-Regime - wie bei vielen Sunniten in der Region. Denn radikal-islamische Milizen werden als starke Front gegen Assad gesehen. Er wird in Syrien für den Tod von 200.000 Menschen und die Vertreibung von mittlerweile zehn Millionen Menschen verantwortlich gemacht.

Demgegenüber ist der "Islamische Staat" aus Sicht vieler Sunniten das kleinere Übel. Das Problem für die Türkei ist, dass das nur die Hälfte der türkischen Bevölkerung so sieht. Die andere Hälfte, vor allem die Aleviten und Kurden - und das sind ja ungefähr auch 40 Millionen Türken - sehen Assad als das kleinere Übel, weil Assad traditionell eher für konfessionelle Toleranz gestanden hat. Ich glaube, dass diese innenpolitische Dimension sehr wichtig ist, um zu verstehen, dass die Türkei gespalten ist, wenn es um die Betrachtung der Miliz "Islamischer Staat" und das Verhältnis zu Assads Syrien geht.

Was will Erdogan denn erreichen? Er hat sich ja die Erlaubnis vom Parlament geholt, in Syrien einzumarschieren, hält sich aber jetzt zurück.

Die türkische Regierung hat schon sehr früh versucht, eine Flugverbotszone in Syrien durchzusetzen, um Teile Syriens vor Beschuss durch Assads Armee und Luftwaffe zu schützen. Damit hat er sich nicht durchgesetzt. Jetzt versucht er, die zugespitzte Situation in der türkischen Grenzregion zu nutzen, um das Konzept einer Flugverbotszone doch noch durchzusetzen. Die negative Dynamik, die in der Region vorhanden ist, versucht die türkische Regierung zu nutzen, um eigene sicherheitspolitische Vorstellungen im Kampf gegen das Assad-Regime durchzusetzen.

Warum macht sie das?

Die türkische Regierung sieht Assad nicht als Teil einer möglichen Lösung. Die türkische Regierung glaubt nicht, dass Assad einer Übergangsregierung angehören könnte oder noch irgendeine Legitimation besitzt. Wir haben eine extrem auseinander gehende Sicht auf den Syrien-Krieg zwischen der Türkei und anderen Akteuren: Der Druck durch den "Islamischen Staat" hat dazu geführt, dass Assad wieder als möglicher Verbündeter gegen den Dschihadismus gehandelt wird - trotz des Scheiterns der Verhandlungen in Genf Anfang des Jahres. Diese Perspektive wird von der Türkei absolut nicht geteilt. Sie will Assad unbedingt loswerden.

Oliver Ernst, Länderreferent im Nahost-Referat der Konrad-Adenauer-Stiftung (Foto: privat)
Politikwissenschaftler Dr. Oliver ErnstBild: Konrad-Adenauer-Stiftung

Aber wenn Erdogan gegen den "Islamischen Staat" nicht eingreift: Stärkt das Assad nicht auch?

Wir müssen hier genau unterscheiden: Was passiert kurzfristig, innerhalb weniger Tage, und was läuft mittel- und langfristig ab? Wir bekommen - auch über die sozialen Medien - leicht den Eindruck, dass die Türkei nur zuschaut. Aber das ist nicht der Fall. Die Türkei hat 200.000 Kurden aus der Grenzregion in das Land gelassen. Das ist ein wichtiger Schritt gewesen, denn für die Türkei ist es ja nicht einfach, Kurden ins Land zu lassen und die sehr unruhige kurdische Bevölkerung in den Grenzgebieten dadurch weiter zu stärken. Das ist ein Schritt gewesen, den man wirklich wertschätzen sollte und der für die Türkei auch sicherheitspolitische Nachteile mit sich bringt.

Außerdem kann die Türkei nicht einfach mit ihrer Armee in Syrien intervenieren, ohne darüber nachzudenken, was als nächstes kommt. Deshalb finde ich es sehr wichtig, dass die Türkei, die Amerikaner und die anderen Verbündeten sich jetzt zusammensetzen und darüber sprechen: Was ist perspektivisch am Sinnvollsten? Dass die Türkei nicht mit den PKK-Milizen auf Augenhöhe verhandelt, was in der syrisch-türkischen Grenzregion geschieht, ist nachvollziehbar. Die Kurden in der Grenzregion stehen der PKK nahe; sie sind sehr stark von den militanten Kurden beeinflusst, die auch gegen Ankara kämpfen. Das sind keine Freunde und auch keine Verbündeten Ankaras. Die Türkei ist nicht daran interessiert, diese feindselig eingestellten Kräfte durch irgendwelche militärischen Schritte zu unterstützen - ganz abgesehen davon, dass das auch die relevanten politischen Kräfte in der syrischen Kurdenregion nicht wirklich möchten.

Die Kurden, die die kurdischen Milizen unterstützen, wollen nicht, dass die türkische Armee jetzt plötzlich in Kobane stationiert ist. Man fordert von den Türken eigentlich das Unmögliche: Die Türkei soll ein Gebiet schützen, das aber gar nicht von der Türkei geschützt werden will, weil ein Schutz ja im Grunde auch eine gewisse militärische Absicherung verlangt. Die syrischen und türkischen Kurdenmilizen wollen die türkische Armee auf gar keinen Fall auf kurdisch besiedeltes Territorium voranschreiten sehen. Von der Türkei wird verlangt, dass sie einerseits die kurdischen Kämpfer aus der Türkei nicht von der Unterstützung der syrischen Kurdenmilizen abhält, dass sie aber den IS-Kämpfern Einhalt gebietet.

Was wäre denn für die Türkei das Worst-Case-Szenario?

Die Türkei erlebt gerade ein Worst-Case-Szenario. Denn dass ein Diktator wie Assad seit dreieinhalb Jahren seine eigene Bevölkerung abschlachtet, dass die Internationale Gemeinschaft sich als absolut unfähig gezeigt hat, auch nur den kleinsten humanitär erforderlichen Kompromiss zu erreichen mit dem Assad-Regime, mit den ihm nahe stehenden Staaten Russland und Iran: Das alles ist ein absolutes Fiasko, auch aus türkischer Sicht. Im Grunde gibt es aus türkischer Perspektive kaum noch eine Verschlechterung, denn die Türkei ist ein sehr starker Staat. Sie muss nicht befürchten, dass der "Islamische Staat" auf türkischem Territorium vorrückt.

Sie muss auch nicht befürchten, dass die PKK plötzlich wieder eine breite militärische Kampagne beginnt. Dafür sind die Kurden, wie wir das ja aktuell gerade sehen, viel zu schwach. Dass sich die innere Sicherheitslage durch die herannahende Front des "Islamischen Staates" verschlechtert hat, ist ein Kollateralschaden. Aber das eigentliche Drama aus türkischer und auch aus internationaler Perspektive ist doch, dass das Assad-Regime seit dreieinhalb Jahren morden kann, und wir es nicht geschafft haben, diesem Regime zivil, politisch oder militärisch Einhalt zu gebieten.

Dr. Oliver Ernst ist Politikwissenschaftler und Länderreferent im Nahost-Referat der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin.

Das Interview führte Anne Allmeling.