Ernüchterung am Standort China
23. Juni 2023Die beiden Umfragen hatten es in sich: Nicht nur die Deutsche Industrie- und Handelskammer, sondern auch ihr größeres Pendant, die Europäische Handelskammer in China, zeichneten bei aktuellen Umfragen unter ihren Mitgliedsunternehmen, die im Juni veröffentlicht wurden, ein ernüchterndes Bild beim Geschäftsklima.
Die Hoffnungen auf eine starke Erholung der chinesischen Wirtschaft nach dem Ende der Null-Covid-Politik haben sich zerschlagen. Mehr als die Hälfte der deutschen Unternehmen erwartet für 2023 eine unveränderte oder schlechtere Branchenentwicklung, obwohl das Reich der Mitte seine Politik knallharter Lockdowns mit der erzwungenen Schließung von Fabriken und Frachthäfen seit dem Spätherbst 2022 aufgegeben hat.
Zwar will trotz der gedämpften Geschäftserwartungen mehr als die Hälfte der deutschen Unternehmen (55 Prozent) in den nächsten Jahren in China weiter investieren. Während der Pandemie 2020 und 2021 hatten das allerdings noch mehr als 70 Prozent der befragten Firmen vor. Und wenn Unternehmen heute trotz aller Probleme investieren, tun sie es mit 62 Prozent überwiegend deshalb, um auf dem chinesischen Markt wettbewerbsfähig zu bleiben. Allerdings will auch fast jede vierte Firma ihre Investitionen abbauen - deutlich mehr als noch während der Pandemie.
60 Prozent der Firmen erwarten ein schlechteres Marktumfeld, mehr als 40 Prozent fürchten die Folgen geopolitischer Spannungen in Form von Sanktionen oder Exportkontrollen. Die Unsicherheit über die weiteren Auswirkungen des Ukraine-Kriegs und des Taiwan-Konflikts drücken auf die Stimmung. Auch Pekings Bemühungen, sich unabhängiger vom Ausland zu machen, nennt fast jedes vierte Unternehmen als Grund für weniger Investitionen.
Die gleiche Anzahl befragter Unternehmen verfolgt eine Diversifizierung der Lieferketten weg von China, fast jedes fünfte will verstärkt in anderen Länder als China investieren. Und mehr als 16 Prozent haben Pläne vorbereitet, wie sie sich im Fall der Fälle sogar ganz aus China zurückziehen können.
Negativrekorde beim Geschäftsklima
Auch für einen großen Teil der europäischen Firmen hat der Standort in China an Glanz verloren, so der Tenor einer Umfrage unter 570 Unternehmen, die Ende Juni veröffentlicht wurde. Das Geschäftsklima in China sei "so ziemlich das niedrigste, das wir je hatten", kommentierte der neue Präsident der Europäischen Kammer, Jens Eskelund, gegenüber Reportern in Peking.
Trotz des Endes der Null-Covid-Politik schwinde die Zuversicht in die wirtschaftlichen Aussichten in China. Auch leide die Profitabilität. Angesichts wachsender Risiken und eines unberechenbaren Umfeldes sagte eine Rekordzahl von 64 Prozent der befragten europäischen Firmen, dass es in China schwieriger geworden sei, Geschäfte zu betreiben. Dies sei ein Negativ-Rekord. Als Problem wurde ein eingeschränkter Marktzugang genannt, ebenso wie Beschränkungen durch Behörden.
Außerdem gebe es oft keinen fairen Wettbewerb zwischen einheimischen und ausländischen Unternehmen. Mehr als jeder vierte Betrieb klage über erzwungene Technologietransfers.
Der zunehmend nationalistische Kurs von Staats- und Parteichef Xi Jinping sei überall deutlich zu spüren, bestätigt Jörg Wuttke, langjähriger Top-Manager von BASF und früherer Präsident der Deutschen und der Europäischen Handelskammern in China, im Gespräch mit der DW.
Es sei "eine starke Nationalisierung in einigen Bereichen festzustellen, wo ganz klar darauf hin gedrängt wird: Wir brauchen die Ausländer nicht mehr, also lassen wir sie auch nicht mehr in den Markt rein."
Standort China verliert an Glanz
Und ein Ende dieser Vertrauenskrise sei nicht in Sicht, betont Kammer-Chef Eskelund: "Es ist gibt keine Erwartung, dass sich das regulatorische Umfeld in den nächsten fünf Jahren wirklich verbessern wird."
Sein Vorgänger Wuttke bringt die hausgemachten Probleme im DW-Interview auf den Punkt: In China dominiere im Vergleich zur früheren Politik der Öffnung "eine Politik, die sehr viel mehr das Schließen betont." Die von Präsident Xi Jinping gewollte Abkehr von der Welt habe allerdings ein Grundproblem, so Wuttke: "China soll unabhängiger werden von der Welt, aber will, dass die Welt abhängiger wird von China. Und das passt natürlich nicht zusammen mit der Globalisierung."
Aber welche Rolle ist dann überhaupt noch für die Europäer und die westlichen Partner in der Handels- und Industriepolitik vorgesehen? "Sicherlich werden die Chinesen die Großen, die ihnen Technologie bringen und auch Jobs bringen, weiter pflegen. Das ist sicherlich im Automobilsegment so, bei der Chemie, im Maschinenbau. Aber wir müssen auch ganz klar sehen, dass wir hier eigentlich unter den Möglichkeiten bleiben", so Wuttke.
Die EU-Unternehmen hätten 2022 gerade mal 23 Prozent mehr nach China verkauft als in die Schweiz. "Es sind sage und schreibe 6,4 Millionen Container von China nach Europa gegangen, aber nur 1,6 Millionen Container wieder von Europa nach China. Das heißt: China ist in vieler Hinsicht sehr viel abhängiger von unserem Markt als wir das sind. Und das ist betrüblich, weil der Markt im Grunde genommen groß genug ist", betont Wuttke.
Dass man im Reich der Mitte in den vergangenen Jahren eher mit angezogener Handbremse unterwegs war, hat nicht nur mit den Auswirkungen der Null-Covid-Politik unter Xi Jinping zu tun. Es seien auch die vielen Zugangsbeschränkungen, die den westlichen Firmen das Leben schwer machen, bestätigt Wuttke.
Kritische Stimmen häufen sich
Der bekannte US-Hedge-Fonds-Manager Stanley Druckenmiller war bislang bekannt für seinen unerschütterlichen Glauben an das Wachstum Chinas. Vor der Corona-Pandemie hatte er die unternehmerische Energie im Reich der Mitte mit "New York auf Crack" umschrieben. Diese Zeiten seien mittlerweile vorbei. Anfang Juni betonte der frühere Mitstreiter von George Soros, dass er China als Investitionsziel aufgegeben hat. Druckenmiller ist außerdem überzeugt, dass China mit Xi Jinpings politischem Kurs seine hochgesteckten Ziele abschreiben könne, mit den USA wirtschaftlich gleichzuziehen oder die größte Volkswirtschaft der Welt zu überholen. Auf der Bloomberg Invest Conference des gleichnamigen Finanznachrichten-Anbieters zeichnete der Star-Investor ein düsteres Bild der Zukunft Chinas.
"Wenn ich zehn oder 15 Jahre in die Zukunft blicke, sehe ich das einfach nicht. Wenn es keinen Machtwechsel an der Spitze gibt, denke ich, dass die Wirtschaft sehr undynamisch sein wird", sagte er. Wenn es überhaupt einen deutlichen Aufschwung in diesem Jahr in China gebe, sei der nur wie ein plötzlicher und kurzer Energieschub, wie wenn man etwas mit einem hohem Zuckergehalt trinkt oder isst. "Wir erwarten ein Zuckerhoch und eine Art robustes Wachstum in den nächsten sechs bis neun Monaten. Aber auf lange Sicht sehe ich sie (die Chinesen, Anm. d. Red.) nicht als eine große Herausforderung für die USA in Bezug auf Wirtschaftskraft und Wachstum."
Etwas diplomatischer umschreibt China-Veteran Jörg Wuttke Chinas wirtschaftspolitische Zwickmühlen. In einer Wirtschaft, die mit einer starken Überalterung kämpft, die große Probleme im Immobiliensektor hat, wo die lokalen Verwaltungen hoch verschuldet sind und kleineren Banken unter Umständen die Pleite droht, könnte das Reich der Mitte vielleicht doch versuchen, wieder zu seiner früheren Offenheit zurückzukommen. Dann könnte wieder "Wirtschaft vor Ideologie" gelten. Für Europas Unternehmen wäre das nicht die schlechteste aller Optionen.