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Erste Reichstagssitzung vor 150 Jahren

21. März 2021

Im März 1871 tagte erstmals der Reichstag des deutschen Kaiserreiches. Ein wichtiger Schritt in Richtung bürgerliche Mitbestimmung. Die wahre Macht lag nicht jedoch beim Urahn des heutigen Bundestages.

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Plenarsitzungssaal des Reichstags, 1889 in der Leipziger Straße 4
Sitzung des Reichstags 1889Bild: bundesarchiv/wikimedia

Der Bundestag ist die Visitenkarte der deutschen Demokratie. Im Berliner Reichstagsgebäude mit seiner gläsernen Kuppel als Zeichen politischer Transparenz entscheiden derzeit 709 gewählte Abgeordnete über Gesetze sowie beispielsweise auch Auslandseinsätze der Bundeswehr. Sie wählen die Bundeskanzlerin oder den Bundeskanzler, kontrollieren die Regierungsarbeit und debattieren öffentlich über den richtigen politischen Weg. Demokratischer Alltag; heutzutage.

Als sich am 21. März 1871 der Reichstag zu seiner ersten Sitzung in Berlin traf, war eine Volksvertretung mit derart weitreichenden Befugnissen kaum vorstellbar. Die Macht hielten vor allem andere in den Händen: Kaiser Wilhelm I, der gleichzeitig König von Preußen war, und der von ihm ernannte Reichskanzler Otto von Bismarck.

Mit Gründung des Deutschen Reiches am 18. Januar 1871 war Wilhelm zum Kaiser ernannt worden. Bismarck leitete als Reichskanzler die politischen Geschäfte des ersten deutschen Nationalstaats, der aus einem Staatenbund unter preußischer Führung entstanden war.

Deutschland Front provisorisches Reichtagsgebäude Berlin Leipziger Straße 4 | 1871
Die ersten Sitzungen des Reichstags fanden in einer Porzellanmanufaktur in der Leipziger Straße in Berlin stattBild: akg-images/picture alliance

Die wesentlich von Bismarck gestaltete Reichsverfassung räumte der monarchischen Exekutive weitreichende Vorrechte ein: "Das Militär, die Außenpolitik und die Reichsverwaltung blieben dem Einfluss des Parlaments weitgehend entzogen und vor allem die Besetzung der Regierung hing (…) einzig vom Vertrauen des Kaisers ab, nicht von den Mehrheitsverhältnissen im Parlament", heißt es in Erläuterungen des Bundestages zum deutschen Parlamentarismus. Für die Bürger war in der aristokratischen Gedankenwelt vor allem eine Rolle vorgesehen: die von kaiserlichen Untertanen.

Lehrjahre der Demokratie

Dennoch konnten Kaiser und Reichskanzler nicht einfach durchregieren. "Es gab in Preußen bereits seit 1850 ein Parlament und das haben die sich einfach nicht getraut", sagt der Historiker Christoph Nonn von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf im Gespräch mit der DW. Schon die Deutsche Revolution von 1848/49, in der es um eine Demokratisierung des Deutschen Bundes ging, sei "ein deutliches Signal dafür gewesen, dass es ohne eine Beteiligung der Bevölkerung an der Politik nicht geht".

Zwar sei der Reichstag als eine Art Feigenblatt der Volksbeteiligung konzipiert gewesen, "aber eigentlich ist es das von Anfang an nie wirklich gewesen, weil die Parlamentarier sehr selbstbewusst aufgetreten sind", erklärt Nonn. Immerhin konnte das Parlament über Gesetze mitentscheiden und hatte die Budget-Kompetenz.

"Eine Regierung, die im Reichstag keine Mehrheiten bekam, war praktisch handlungsunfähig, weil sie mit Ausnahmen der Außen- und der Militärpolitik in keinen zentralen Politikbereich Gesetze erlassen konnte", erklärt Andreas Biefang von der Parlamentarismuskommission, einer Forschungseinrichtung des Bundestags, im DW-Gespräch.

Mehr Macht für das Bürgertum

Beschränkt wurde die Macht des Reichstags anfangs noch vom Bundesrat. Neben dem Parlament entschied dieser über Gesetze. Die weitgehend von Preußen kontrollierte Versammlung der Reichsfürsten sollte als eine Art konservatives Bollwerk Demokratisierungstendenzen verhindern, die man vom Reichstag befürchtete. Um die Position des Parlaments zu schwächen, war vorgesehen, dass der Kaiser ihn mit Zustimmung des Bundesrates auflösen konnte. 

Aber die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung gab der bürgerlichen Mitbestimmung Auftrieb. "Die Industrialisierung mit den Massenbewegungen der Arbeiterschaft schwächte die alten ländlich-aristokratischen Eliten und stärkte die neuen industriell-bürgerlichen Eliten. Das führte dazu, dass die Bevölkerung immer selbstsicherer wurde und über ihre Parteien wesentlich mehr Einfluss forderte", erläutert Geschichtswissenschaftler Nonn.

Reichstagsgebäude in Berlin
Das heutige Berliner Reichstagsgebäude mit der prägnanten Glaskuppel über dem PlenarsaalBild: picture-alliance/dpa/D.Kalker

Durch seine gesetzgeberische Tätigkeit und die Resonanz in der Öffentlichkeit emanzipierte sich der Reichstag immer mehr. Sowohl Bevölkerung wie Regierung akzeptierten seine politischen Positionen schließlich als Ausdruck der Volksmeinung. In demselben Maße, wie sich das Parlament zu einem Symbol des jungen Nationalstaats entwickelte, verlor der Bundesrat an Bedeutung.

Leidtragende des Wahlsystems

Beneidenswert war das Leben der Reichstags-Abgeordneten trotz ihrer gestiegenen Bedeutung allerdings kaum: Lange Zeit bekamen sie keine Diäten, hatten weder Mitarbeiter noch eigene Büros. Auch das Wahlsystem zum Reichstag schürte immer wieder Kritik.

Aufgrund des Mehrheitswahlrechts und der Einteilung der Wahlkreise waren städtische Gebiete, in denen es einen großen Bevölkerungszuwachs gegeben hatte, deutlich unterrepräsentiert. Davon profitierten die Konservativen. Leidtragende waren linke Parteien in den urbanen Zentren. In den Anfangsjahren gab es zudem längst nicht immer offizielle Wahlzettel, Wahlkabinen oder Wahlurnen.

Bismarck bei Wilhelm I., Holzstich
Ein Holzstich von Kaiser Wilhelm I (r.) und Reichskanzler Bismarck, die vorrangig die Politik des Deutschen Reiches bestimmtenBild: picture-alliance

Und: Es herrschte ein demographisch-soziales Ungleichgewicht. Wählen durften lediglich Männer mit Vollendung ihres 25. Lebensjahrs. Frauen und Soldaten im aktiven Militärdienst waren von der Abstimmung zum Reichstag ausgeschlossen. Ebenso Empfänger von Armenfürsorge. "Die Gründe dafür liegen in der Idee von der politischen Mündigkeit männlicher Wahlbürger", erklärt Andreas Biefang von der Parlamentarismuskommission.

Zu der Vorstellung gehörte, dass man ökonomisch selbstständig gewesen sein sollte, "während Soldaten die staatsbürgerlichen Rechte untersagt wurden, damit sie politische Konflikte nicht in die Armee hinein trugen."

Wahlbeteiligung von persönlicher Bedeutung

Das habe dazu geführt, dass bei der ersten und geheim abgehaltenen Reichstagswahl am 3. März 1871 nur "etwa 20 Prozent der Bevölkerung des neu gegründeten Kaiserreichs über das Wahlrecht verfügten", so Biefang. Die Wahlbeteiligung lag bei 50 Prozent. Bis zur letzten Reichstagswahl des Deutschen Kaiserreiches im Jahr 1912 vor dem Ersten Weltkrieg steigerte sie sich auf mehr als 84 Prozent.

Biefang zufolge wurde das Wählen für die Menschen immer wichtiger. "Sie hatten das Gefühl, dass die Beteiligung an der Reichstagswahl für sie persönlich von Bedeutung ist. Und zwar deshalb, weil viele Entscheidungen des Reichstags mit ihrem Leben zu tun hatten", sagt der Historiker.

Einwanderungsgesetz Bundestagsdebatte
Die Debatten des Bundestags finden oft keinen großen Widerhall in der ÖffentlichkeitBild: picture-alliance/dpa/R. Hirschberger

Von einem solchen Interesse kann der Bundestag nur träumen. Der Historiker Christoph Nonn wünscht dem Nachfahren des Reichstags jedenfalls mehr von der öffentlichen Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die das Parlament des Kaiserreichs erfahren hatte: "Was dort verhandelt wurde, war Tagesgespräch. Bei den Friseuren, auf Märkten, in Wäschereien – überall wurde über das gesprochen, was im Reichstag Thema war."

Heute fänden die Debatten in der Volksvertretung weit weniger Beachtung. Was in mancher Hinsicht dazu führe, "dass Bundestagsabgeordnete Dinge tun, die sie vielleicht nicht tun würden, wenn man ihnen mehr auf die Finger schaut", sagt der Professor für Neueste Geschichte in Anspielung auf den Lobbyismus-Skandal um Parlamentarier von CDU und CSU.

Ralf Bosen, Redakteur
Ralf Bosen Autor und Redakteur