Erste Schritte im "goldenen Westen"
29. April 2013Der 9. November 1989 begann für mich wie ein ganz normaler Arbeitstag. Ich war Nachrichtensprecher beim Englischen Programm von Radio Berlin International, dem DDR-Auslandsrundfunk. Es war eine Zeit voller hektischer Umbrüche im Osten, und es war für uns extrem schwierig zu beurteilen, wohin diese Entwicklungen führen würden. Als Journalist hatte ich immerhin einen begrenzten Zugang zu ausländischen Nachrichtenagenturen, was mir dabei half, die politischen Ereignisse zu analysieren.
Als wir die Nachricht vernahmen, dass Ostdeutsche in den Westen reisen könnten, konnte ich das zuerst kaum glauben. Unser Radiosender beschloss damals, diese Nachricht eine ganze Weile zu ignorieren. Unser Chefredakteur wollte sicher gehen, dass wir in unseren Sendungen tatsächlich darüber berichten sollten.
Mischung aus Neugierde und Angst
Im westdeutschen Fernsehen sahen wir bald, wie Hunderte Ostdeutsche in aller Eile zu den Grenzübergängen an der Mauer gelaufen waren, um mit den Grenzbeamten zu debattieren. Was folgte, ist in die Geschichtsbücher eingegangen: Die Berliner Mauer fiel. Die Ereignisse dieser Nacht läuteten den Anfang vom Ende der DDR ein. An diesem Donnerstag aber war ich noch gar nicht so sicher, ob wir auf eine glänzende Zukunft oder eine Katastrophe zusteuerten.
Erst an dem Wochenende nach dem Mauerfall reiste ich nach West-Berlin. Ich überquerte die Spree und betrat den westlichen Stadtteil Kreuzberg mit einer Mischung aus Neugierde und Angst. Ich hätte mir wohl besser nicht diesen Stadtteil als Ziel meines allerersten Besuchs in den Westen aussuchen sollen. Denn was ich sah, waren verdreckte Straßen und heruntergekommene, mit Graffitti verschmierte Häuser. "Das kann nicht der goldene Westen sein", dachte ich.
Glanz und Glitter
Ich beschloss, einen Nahverkehrszug ins Zentrum zu nehmen. Und in der Tat sah ich dort, in den Straßen rund um den Kurfürstendamm, endlich eine Weltstadt voller Glanz und Glitter.
Ich hatte nicht eine D-Mark in der Tasche, marschierte die Straßen entlang, schaute mir die Schaufenster an und redete recht schüchtern ein paar Westberliner an. Sie erkannten sofort, dass ich ein "Ossi" bin. Woher sie das wüssten, fragte ich sie. War meine Kleidung wirklich so schrecklich? "Nein", bekam ich als Antwort, "Ihre Kleidung ist in Ordnung. Es ist dieser unsichere Blick in Ihren Augen und die Art und Weise, wie Sie anderen Fußgängern Platz machen. Wir hier rempeln uns lieber mit Absicht gegenseitig an."
Einmal "Ossi" - immer "Ossi"
Heute, mehr als Jahre später, rempele ich immer noch niemanden an. Ich habe meine ostdeutsche Mentalität behalten. Das bedeutet auch, dass ich vor Leuten auf der Hut bin, die alles in der DDR verteufeln. Die DDR hatte zwar Regierungen, die grauenhafte Dinge wie die Mauer und die Stasi guthießen. Aber ich hatte in diesem Land auch eine sorgenfreie Kindheit und kam in den Genuß einer kostenlosen Schul- und Universitätsausbildung, die es mir später ermöglichte, einen interessanten Beruf auszuüben - all das, ohne jemals Mitglied der Kommunistischen Partei oder Stasi-Informant gewesen zu sein.
Mein Leben hat sich im wiedervereinten Deutschland stark geändert, auch wenn keinesfalls alles auf den Kopf gestellt wurde. Mit viel Glück trat ich in den frühen 1990er Jahren eine Stelle bei der Deutschen Welle an. Der Journalismus bela, für mich ein völlig neues Gesicht. Die westliche demokratische Maxime der ausgewogenen Berichterstattung und des freien Zugangs zu Informationen ist wirklich ein Segen.
Niemand will die DDR zurück
Auch in meinem privaten Alltag hat sich vieles verändert: Es gibt kein langes Schlangestehen mehr vor den Geschäften. Ich muss nicht mehr zehn Jahre auf ein neues Auto warten. Meinen "Trabant" habe ich längst verschrottet. Und auch das freie Reisen ins Ausland ist eine Wohltat. Wenn man das nötige Kleingeld hat, steht einem die ganze Welt offen.
Es war schön zu erleben, wie die ostdeutschen Städte komplett renoviert wurden. Sie sehen jetzt alle viel farbenfroher und moderner aus, alte Touristenattraktionen sind erhalten geblieben. Und die Infrastruktur in Ostdeutschland ist jetzt eine der besten der Welt, vor allem, was das Straßennetz und die Telekommunikation anbelangt.
Trotzdem ist es eine Schande, dass die Arbeitslosigkeit im Osten noch immer so hoch ist. Viele meiner Freunde und Verwandte haben nach dem Fall der Mauer ihre Arbeit verloren und fragen sich, ob die freie Marktwirtschaft des Westens wirklich so erstrebenswert ist. Aber gleichzeitig ist auch klar: Niemand will die alte DDR zurück haben.