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Wissen, was damals war

Jeanette Seiffert19. Januar 2014

Junge Menschen interessieren sich für den Ersten Weltkrieg. Einer aktuellen Umfrage zufolge wollen 77 Prozent der Unter-Dreißigjährigen mehr darüber wissen. In der Schule wird das Thema eher vernachlässigt.

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Ein Mann geht am 04.07.2013 am Douaumont (Frankreich/Lothringen) durch die Grabreihen von im 1. Weltkrieg gefallener französischer Soldaten. Das Gräberfeld wurde vor dem Beinhaus Douaumont als Gedenkstätte für die bei der Schlacht um Verdun gefallenen Soldaten errichtet. (Foto: Rolf Haid)
Bild: picture-alliance/Rolf Haid

1914. Diese Jahreszahl prangt schon seit Wochen auf unzähligen Zeitschriften, über Artikeln und auf Ankündigungen zu Filmen und Ausstellungen. Das große Interesse am Kriegsausbruch, der sich in diesem Sommer zum 100. Mal jährt, bestätigt nun auch eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa.Die überwältigende Mehrheit der Deutschen kann sich für Berichte über das damalige Geschehen erwärmen, besonders aber die junge Generation der 14- bis 29-Jährigen. Auch bei den Auftritten der Deutschen Welle in Sozialen Medien wie Facebook, Twitter und Google+, die ja gerade von jungen Menschen intensiv genutzt werden, beteiligen sich besonders viele an Diskussionen, die den Ersten Weltkrieg betreffen.

Vernachlässigter Weltkrieg?

Doch woran liegt es, dass ein Ereignis, das so weit entfernt von der Lebenswelt der Jugendlichen und jungen Erwachsenen liegt, solch eine Anziehungskraft entwickelt? Den Psychologen Carlos Kölbl von der Universität Bayreuth überrascht das nicht: "Das könnte daran liegen, dass Schüler im Geschichtsunterricht vergleichsweise wenig über den Ersten Weltkrieg erfahren und deshalb sagen: Darüber wollen wir mehr wissen!" Der Zweite Weltkrieg und vor allem der Nationalsozialismus seien im geschichtskulturellen Diskurs in Deutschland dominant - die Zeit zwischen 1914 und 1918 dagegen sei vernachlässigt worden.

Titelseiten zum Ersten Weltkrieg 1914. Foto DW/Per Henriksen
Hundert Jahre nach Kriegsausbruch: VeröffentlichungsflutBild: DW/P. Henriksen

Kölbl forscht zum Geschichtsbewusstsein von Jugendlichen und kann sich vorstellen, dass der Erste Weltkrieg gerade bei Deutschen eine gewisse Entlastungsfunktion haben könnte: Während beim Zweiten Weltkrieg klar ist, dass Deutschland mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 den Krieg begonnen hat und dafür verantwortlich ist, sei das beim Ersten Weltkrieg nicht so eindeutig: "Zumal es im Moment ja auch eine neue Diskussion darüber gibt, dass Deutschland eben keine Alleinschuld trägt beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs", sagt Kölbl - etwas durch das Buch "Die Schlafwandler" des australischen Historikers Christopher Clark.

Geschichte gibt moralische Orientierung

"Das ist eines der Themen, bei denen man versucht, kontroverse Thesen der Wissenschaft und unterschiedliche Meinungen dazu in den Schulunterricht einzubinden", glaubt Ulrich Bongertmann, Schulbuchautor und Vorsitzender des Verbands der Geschichtslehrer. Das sei aber teilweise nicht ganz einfach, da die Schüler zwar ein großes Interesse an dem Thema mitbrächten, aber oft nur wenig Vorwissen. "Die Komplexität der Schuldfrage lässt sich kaum auf einer Schulbuchseite oder in 45 Minuten Unterricht unterbringen."

Die Auseinandersetzung mit Fragen wie diesen hält der Wissenschaftler Carlos Kölbl aber für enorm wichtig für die Gesellschaft: Es gehe um den kollektiven Umgang mit der Geschichte: "Das heißt, der Blick in die Vergangenheit dient dazu, sich in der Gegenwart zu orientieren - in politischer, aber auch in moralischer Hinsicht", sagt Kölbl im DW-Interview.

Soldaten mit Gasmasken im Ersten Weltkrieg.
Soldaten im Ersten Weltkrieg: bewusster Umgang mit der eigenen GeschichteBild: picture alliance/Mary Evans Picture Library

Geschichtsunterricht in der globalisierten Welt

Nach seiner Erfahrung sind Jugendliche sehr offen für diese Diskurse. Allerdings beziehe der Schulunterricht dabei oft den Hintergrund und die Herkunft der Schüler zu wenig mit ein: Zum Beispiel hätten Mädchen oft einen anderen Blick auf die der Geschichte als Jungen - und ein deutscher Schüler einen anderen als sein Mitschüler mit türkischen, russischen oder serbischen Wurzeln. "Diese ganzen Aspekte, die zu tun haben mit einer globalisierten Welt, spielen in der Forschung zum Geschichtsbewusstsein noch eine zu geringe Rolle", kritisiert der Psychologe. "Also: Was bedeutet es, wenn jemand Migrationserfahrungen hat, was ist dessen Interesse an Geschichte?" Im Unterricht biete das die Chance, sich geschichtlichen Ereignissen aus unterschiedlichen Perspektiven zu nähern.

Man versuche durchaus, den Migrationshintergrund mit einzubeziehen, betont Geschichtslehrer Ulrich Bongertmann. Gerade der Erste Weltkrieg biete dafür genügend Anknüpfungspunkte. Doch man müsse auch sehr sensibel sein: "Es kann sehr schnell mal heikel werden, wenn man zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Osmanischen Reich die Kriegsverbrechen an den Armeniern thematisiert - für viele türkische Schüler ist das ein Tabu." Seine Hoffnung in Bezug auf das Gedenkjahr 2014: "Es bietet auf jeden Fall die Chance, Schüler mehr für die etwas weiter zurückliegende Geschichte zu begeistern." Anlässe dafür gibt es genug: Im Herbst folgt das 75-jährige Gedenken zum Beginn des Zweiten Weltkriegs - und zum Fall der Mauer vor 25 Jahren.

Geschichtsunterricht in einer Schule mit Uniform. Foto: Timurs Subhankulovs, dpa.
Hautnaher Unterricht: Was interessiert den einzelnen Schüler an der Geschichte?Bild: picture-alliance/dpa