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Erstwähler: Aufbruch nach Merkel

23. September 2021

Fast drei Millionen junge Menschen dürfen am Sonntag erstmals wählen. Sie kennen seit ihrer Kindheit nur Angela Merkel als Bundeskanzlerin - und sehnen sich nach Veränderung.

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Bundestagswahl | Erstwähler
Dürfen erstmals wählen: Jona, Thurid und Cornelius (v.l.n.r.)Bild: Lisa Hänel/DW/Privat

Jona, Cornelius und Thurid sind drei von fast drei Millionen jungen Menschen, die bei der Bundestagswahl zum ersten Mal mitentscheiden dürfen. Jona hat schon per Briefwahl gewählt. Thurid und Cornelius wollen ihre Stimme am Sonntag persönlich in der Wahlkabine abgeben. "Ich bin sehr glücklich, dass ich endlich wählen darf. Und ich bin auch relativ optimistisch, dass die Wahl viel verändern wird", sagt Cornelius. Thurid ist sich der Verantwortung bewusst, die eine Stimmabgabe mit sich bringt: "Man macht sich schon viele Gedanken. Es ist auf jeden Fall aufregend."

Die drei, die im Westen und Osten der Republik leben, eint vieles, und in gewisser Weise verkörpern sie das, was ihrer Generation nachgesagt wird: Sie sind gut informiert, alle haben die Wahlprogramme ihrer favorisierten Parteien gelesen. Allen ist Klimaschutz eines der wichtigsten Anliegen. Und sie kennen, seit sie denken können, im Kanzleramt nur Angela Merkel. "Dass nun nach 16 Jahren Merkel was Neues kommt, das gibt der Wahl nochmal was ganz Besonderes", sagt Cornelius. Als Merkel 2005 ins Amt kam, waren Jona und Thurid zwei Jahre alt, Cornelius vier.

Alle drei loben die Kanzlerin. Ein "Ruhepol" sei sie gewesen, eine "begabte Politikerin" und irgendwie einfach immer da. "Ist schon komisch, dass sie weg ist. Es ist interessant, wenn man sich überlegen muss: 'Wen will ich als neuen Kanzler, neue Kanzlerin sehen?' Und man misst das dann auch an Merkel", sagt Thurid. Wäre Merkel noch einmal Kanzlerkandidatin gewesen, hätte er die CDU vielleicht sogar gewählt, überlegt Jona. "Aber Armin Laschet kann ich nicht mittragen." Er hat die Grünen gewählt.

Beliebt: vor allem Grüne und FDP 

Ein Blick auf Umfragen verrät: Damit ist er in guter Gesellschaft unter Jung- und Erstwählern. Die repräsentative "Teengeist"-Umfrage der Kommunikationsagentur Fischer-Appelt in Zusammenarbeit mit dem Marktforschungsinstitut Appinio zeigt, dass die befragten 16- bis 24-Jährigen mit 18,7 Prozent die Grünen wählen wollen – mehr als jede andere Partei. Auf Platz zwei liegen mit knapp über 16 Prozent jeweils die sozialdemokratische SPD und die liberale FDP. Andere Umfragen sehen bei den unter 30-Jährigen einen noch deutlicheren Abstand der Grünen und der FDP zu den übrigen Parteien.

Infografik - Wie wählen Junge Wähler im Vergleich - DE

"Wir sehen, dass bei FDP und Grünen ein relativ starker Fokus auf den jungen Wählerinnen und Wählern liegt allein aufgrund der Schwerpunktsetzung des eigenen Wahlkampfs und der Thematiken", sagt die Politikwissenschaftlerin Anne Goldmann von der Universität Duisburg-Essen. Vor allem zwei Themen seien entscheidend, die sich die Parteien auf die Fahnen geschrieben hätten: Klimaschutz und Digitalisierung. "Fridays for Future ist in den letzten Jahren stark gewachsen, und man kann sagen, auf politischer Ebene steht Bündnis 90/Die Grünen der Bewegung am nächsten und versucht das auch zentral aufzugreifen", sagt Goldmann.

Bei Cornelius hat das funktioniert. Er engagiert sich bei Fridays for Future und wird am Sonntag die Grünen wählen. Trotzdem, das ist ihm wichtig zu betonen, sei er nicht mit allem, was die Grünen forderten, einverstanden. Zum Beispiel werde zwar über einzelne Aspekte des Klimaschutzes gesprochen, aber zu wenig über den Klimawandel als Ganzes.

Die Grünen scheinen verstanden zu haben, dass sie hier einen Schatz an potenziellen Wählern heben können. Das zeigt sich auch darin, dass die Partei personalisierte Briefe an Erstwähler und Erstwählerinnen verschickt hat, auch Cornelius und Jona haben einen bekommen. Das haben zwar auch andere Parteien gemacht, auf Nachfrage haben aber nur die Grünen einen zentralen Überblick darüber, wie viele sie verschickt haben: rund zwei Millionen. Und begründen das so: "Die Jugendbewegungen der letzten Jahre haben sich für Klimaschutz, eine vielfältige Gesellschaft in einem vereinten Europa und weltweite Gerechtigkeit eingesetzt. Ihr Engagement hat die Gesellschaft verändert. Jetzt ist der Moment, diese Veränderung ins Parlament zu tragen."

Junge Wähler: Gut vertreten von der Politik?

Auch Thurid hat überlegt, die Grünen zu wählen. Nun tendiert sie aber zur FDP. Überzeugt habe sie vor allem deren Wirtschaftspolitik. Statt nur zu fordern, Geld auszugeben, beschäftige sich die Partei auch damit, wie Geld eingenommen werden könne. Mit ihrer Stimme wolle sie "dem sehr linken Wirtschaftstrend etwas entgegensetzen". Aufmerksam wurde sie auf die FDP wegen deren Corona-Politik: "Meine Mutter ist Altenpflegerin und nicht geimpft. Ihre größte Angst ist, deshalb ihren Job zu verlieren. Ich habe dabei gemerkt, welche Auswirkungen eine Impfpflicht haben könnte." Der FDP rechne sie hoch an, dass die sich besonders deutlich gegen eine solche Pflicht ausspreche. Thurid selbst ist gegen COVID-19 geimpft, sie habe stundenlange Diskussionen mit ihrer Mutter geführt, könne deren Ängste vor der Impfung aber zumindest verstehen.

Aufbruchsstimmung, aber auch Feindbilder

Grundsätzlich hört man bei allen drei Erstwählern heraus: Hauptsache, es gibt Veränderung. "Jüngere Wähler eint vor allem die Unzufriedenheit mit der Politik, aber in einem anderen Maße als ältere Leute", glaubt Jona. Während ältere Wähler eher unzufrieden mit den Entwicklungen in der Vergangenheit seien, hätten junge Wähler eher Angst um ihre Zukunft. Der Wahlkampf der Regierungsparteien CDU/CSU und SPD wirkt auf ihn ideenlos.

Thurid denkt, dass die Grünen und die FDP auch deshalb bei den Jungen so erfolgreich sind, weil sie die demokratische Alternative darstellen. "Viele Leute sind genervt vom CDU/SPD-Zusammenkommen, und es ist ein Wunsch nach was Neuem da, und ich glaube, dass Grüne und FDP das als demokratische Parteien am ehesten vermitteln. Sie sind moderne Ansätze, die nicht radikal sind, aber gleichzeitig nicht CDU/SPD, was man die letzten Jahre immer hatte." Die Linkspartei und die AfD würden oftmals zu radikale Positionen vertreten.

Die verunsicherte Republik

Allerdings: Gerade in Ostdeutschland ist die rechtspopulistische, in Teilen rechtsextreme AfD gerade unter jungen Menschen beliebt. Eine kürzlich durchgeführte Wahl mit tausenden Jugendlichen unter 18 ergab: In Thüringen und Sachsen holte die AfD die meisten Stimmen. Thurid kennt das, sie lebt in einem kleinen Ort im Nachbar-Bundesland Sachsen-Anhalt. Jeden Sonntag gebe es AfD-Demonstrationen. "Es ist krass, wie sich die AfD durchsetzt und niemand was dagegen sagt. Auch unter jungen Leuten, die rechte Ansichten haben, die auch von den Eltern weitergegeben werden." Es gebe viele Feindbilder, die auch bei jungen Menschen verfingen. "Und als Erstwähler ist man beeinflussbar."

Auffällig ist auch, dass sich viele Erstwähler und Erstwählerinnen zu Kleinstparteien hingezogen fühlen, viel mehr als die Wählerschaft insgesamt. Bei der "Teengeist"-Umfrage gaben immerhin über 23 Prozent der Befragten an, zu einer kleinen Partei zu tendieren. In Deutschland treten über 50 Parteien an, darunter die paneuropäische Volt-Partei oder auch die Tierschutzpartei. Vermutlich werden die allermeisten dieser Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern und nicht in den Bundestag einziehen. Das hat auch sowohl Cornelius als auch Thurid und Jona davon abgehalten, sich für eine Kleinstpartei zu entscheiden. Die Wahl sei "zu wichtig" sagt Cornelius. Auch Thurid habe sich dagegen entschieden, wobei sie "nicht nur strategisch" wähle, sondern auch nach ihren Werten.

Für wen sich Erstwähler und Erstwählerinnen am Sonntag bei ihrem ersten Gang zur Urne auch entscheiden, sie sind in Deutschland eine Minderheit. Im Vergleich zu den 60 Millionen Wahlberechtigten bilden sie mit ihren drei Millionen eine überschaubare Gruppe. Jona desillusioniert das ein wenig, und er zweifelt am "großen Impact" seiner Wählergruppe. Cornelius ist da schon optimistischer. Er glaubt, dass die Aufbruchsstimmung, die von den Jungen ausgeht, auch im Rest der Bevölkerung vorhanden ist: "Der Wille zur Veränderung kommt nicht nur von uns. Ich glaube schon, dass es einen deutlichen Willen gibt, dass sich etwas verändern muss."