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"Es gibt eine Art Hierarchie"

31. Dezember 2004

Die Opferzahlen der Tsunami-Katastrophe steigen weiter: Offiziellen Angaben zufolge starben über 140.000 Menschen. Den Überlebenden wird geholfen, so gut es geht. Doch viele Einheimische fühlen sich benachteiligt.

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Viele Fischer haben alles verlorenBild: AP


Während ausländische Überlebende der Flutkatastrophe in Thailand in einer internationalen Schule untergebracht wurden - ausgestattet mit Betten, Fernsehern und Internetzugang - mussten die Einheimischen im Freien schlafen. Viele von ihnen hatten noch nicht einmal eine Decke. Um die Moskitos fernzuhalten, entzündeten sie Feuer.

Thailand: Fischerdorf Ban Nam Khem
Ban Nam Khem, Thailand: Viel ist von dem Dorf nicht übrigBild: AP

Hilf' dir selbst

Im Fischerdorf Ban Nam Khem traf nach Aussage des Bewohners Wimol Thongthae am ersten Tag keinerlei Hilfe ein. 2000 Menschen, die Hälfte der Einwohner des Dorfs, würden vermisst, darunter auch 8 der 15 Mitglieder seiner Familie, sagt Wimol. "Ich leben ohne Hoffnung und habe keinerlei Hilfe erhalten", sagt er weiter. "Niemand kam uns zu Hilfe, wir halfen einander gegenseitig", sagt auch die 65 Jahre alte Yokhin Chuaynui, deren Haus völlig zerstört wurde. "Im Krankenhaus wurden verletzte Thais nur behandelt, wenn sie kurz davor waren zu sterben. Ansonsten wurde zuerst den Menschen aus dem Westen geholfen", sagt sie.

Die Fluten haben Fischerboote mitten ins Dorf gespült. Der Verwesungsgeruch der Leichen in dem Boot ist überwältigend. "Die Regierung hat sich mehr um Khao Lak und andere Touristengebiete gekümmert. Denn hier leben nur arme Leute", sagt Provinzsenator Wongphan Natakuathung. Der stellvertretende Landwirtschaftsminister Newin Chidchob, der den Rettungseinsatz in Ban Nam Khem leitet, betont dagegen, die Regierung tue ihr Möglichstes. "Wir lassen sie nicht im Stich. Alle geben ihr Bestes", sagt er am 30. Dezember, während Einsatzkräfte das Wasser aus den Straßen pumpten. "Wenn es in den Augen der Dorfbewohner nicht schnell genug geht, liegt das am Ausmaß der Krise."

Touristen gehen vor

Der Kontrast war besonders in Thailand zu spüren, wo luxuriöse Ferienanlagen unweit von armen Fischerdörfern existierten. Doch Berichte über eine bevorzugte Behandlung von Ausländern kommen aus dem gesamten Katastrophengebiet. Kurz nach dem Rückgang der Fluten begannen die Behörden an den palmengesäumten Stränden im Süden Thailands mit der Errichtung provisorischer Botschaften. Den Touristen wurden kostenlos Telefonverbindungen und Nahrungsmittel zur Verfügung gestellt. Eine internationale Schule, die relativ unzerstört geblieben war, bot den geschockten Urlaubern Unterkunft, und ausländische Regierungen entsandten Flugzeuge, um die Überlebenden in ihre Heimat auszufliegen.

Thailand: Insel Phi Phi. Provinz Krabi
Besonders viele Touristen starben in ThailandBild: AP

Der 52-jährige Robert Eunson aus Yorkshire in England sagt, den Bedürftigsten müsse am schnellsten geholfen werden, ohne Ansehen der Nationalität. Doch wenn die thailändischen Behörden sich besonders um die Ausländer kümmerten, täten sie das nicht zuletzt im eigenen Interesse. "Der Tourismus ist ihnen so wichtig, deshalb gibt es eine Art Hierarchie." Und darüber hinaus gehöre es zur Lebensart der Thais, Gästen zuerst zu helfen. Die 32-jährige Jeanette Dombrowe stimmt zu. Die Deutsche, die seit Jahren auf der Insel Koh Payam lebt, sagt, die Dorfbewohner seien in der Tat Opfer zweiter Klasse. "Aber wenn wir uns nicht um die Ausländer kümmern, könnte das Land den Tourismus verlieren. Das müssen die Dorfbewohner verstehen."

Gefühl von Ungerechtigkeit auch in Sri Lanka und Indien

In Sri Lanka klagen Einheimische darüber, dass Hubschrauber zum Ausfliegen von Prominenten eingesetzt wurden, anstatt Hilfsgüter in verwüstete Gebiete zu bringen. Bei einem dieser Flüge wurden Exbundeskanzler Helmut Kohl und seine Begleitung in Sicherheit gebracht. Im Norden der indonesischen Insel Sumatra, wo sich praktisch keine Touristen aufhielten, setzte der Hilfseinsatz zwar verspätet ein, er verteilte sich aber gleichmäßig auf die völlig verwüsteten Städte und Dörfer.

In Indien stieß bei Überlebenden auf Befremden, dass gebrauchte Kleidung für sie einfach in großen Haufen am Straßenrand abgelegt wurde. In der Stadt Nagappattinam herrscht Verbitterung über die Haltung der Rettungskräfte, die als herablassend empfunden wird. "Sie bringen Essen für ein paar hundert Leute in ein Lager, wo tausende Menschen untergebracht sind", sagt die 35-jährige Lakshimi. "Sie bringen zu wenig Kleidung, zu wenig Milch, so dass Tumulte ausbrechen. Wir haben niemals jemanden um Almosen gebeten, und jetzt sind wir zu Bettlern geworden." (arn)