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"Es gibt keinen Fachkräftemangel"

13. Februar 2023

Digitalisierung, künstliche Intelligenz und Automatisierung werden zu großen Umbrüchen auf dem Arbeitsmarkt führen. Manche Berufe wird es wohl nicht mehr geben. Ein Interview mit dem Arbeitsmarktexperten Simon Jäger.

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Symbolbild | Stellenausschreibungen für Aushilfskräfte
Bild: Jens Büttner/dpa/picture alliance

Werden wir in näherer Zukunft aufgrund des Fachkräftemangels zu viel Arbeit haben oder wegen der Digitalisierung, künstlicher Intelligenz und Automatisierung längerfristig zu wenig Arbeit? Ein Interview mit dem Arbeitsökonomen Simon Jäger, der seit Jahren zum Thema Arbeitsmarkt forscht, zuletzt am Massachusetts Institute of Technology (MIT) gelehrt hat und seit September das Institut zur Zukunft der Arbeit in Bonn leitet.

Deutsche Welle: In den kommenden Jahren gehen die geburtenstarken Jahrgänge in Rente. Bis 2035 fehlen sieben Millionen Fachkräfte in Deutschland, laut dem Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung. Dieser Fachkräftemangel wird häufig als das größte Problem des deutschen Arbeitsmarktes genannt. Von Ihnen dagegen hat man nun schon öfter die These gehört, es gebe gar keinen Fachkräftemangel. Können Sie mir das erklären?

Simon Jäger: Die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter wird in Deutschland stark zurückgehen. Wir müssen uns überlegen, mit welchen Maßnahmen wir gegensteuern möchten. Ansetzen kann man beispielsweise bei der sogenannten stillen Reserve, das sind Menschen, die vielleicht gerne arbeiten würden, die aber gerade nicht in den Arbeitsmarkt hineinkommen. Es gibt auch viele Menschen, die gerade in Teilzeit arbeiten und die unter anderen Bedingungen auch in Vollzeit arbeiten würden. Auch das Ehegattensplitting trägt in Deutschland dazu bei, dass bei vielen Zweitverdienern sehr starke steuerliche Anreize dagegensprechen, eine Tätigkeit aufzunehmen oder mehr zu arbeiten. Auch bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten oder mehr Arbeitszeitflexibilität könnte Menschen helfen, im Arbeitsmarkt aktiv zu werden. Das heißt, wir haben selbst Anreize gesetzt, dass viele Menschen vielleicht weniger arbeiten, als sie es unter anderen Bedingungen machen würden.

Simon Jäger
Simon Jäger, Leiter des Instituts zur Zukunft der ArbeitBild: David Degner/New York Times

Auch wenn es noch einige Reserven, die bisher nicht genutzt sind, bei den Arbeitskräften gibt - im Augenblick klagen viele Unternehmen, dass Fachkräfte fehlen...

Was gegen einen Fachkräftemangel spricht: Wir haben jetzt gerade eine Rekordbeschäftigung in Deutschland. Es arbeiten so viele Menschen wie noch nie - circa 46 Millionen Menschen. Zudem sind die jüngeren Jahrgänge tendenziell besser ausgebildet als diejenigen, die in Rente gehen. Gleichzeitig aber sind die Löhne real stark gefallen - um 5,7 Prozent im vergangenen Jahr. Und das passt nicht zu der These, dass der Faktor Arbeit gerade extrem knapp geworden ist.

Ich denke vielmehr, dass der Wettbewerb am Arbeitsmarkt zugenommen hat. Bewerberinnen und Bewerber reagieren viel stärker auf Unterschiede in der Lohnhöhe und bei den Arbeitsbedingungen. Sie haben teilweise durch die Pandemie, beispielsweise im Bereich der Gastronomie oder an Flughäfen ihre Arbeitsplätze verlassen und woanders Tätigkeiten gefunden, die vielleicht besser entlohnt sind oder angenehmere Arbeitszeiten haben. Und deswegen ruckelt es gerade etwas.

Die Fragen, was ist uns der Faktor Arbeit wert und wie viele Menschen soll es in bestimmten Berufen geben, regeln sich bei uns über das System des Marktes. Insofern haben wir gerade eine Situation, in der die Marktkräfte sagen, dass in bestimmten Bereichen die Arbeitsverhältnisse nicht attraktiv genug sind, um Anreize zu geben, dass Menschen aus anderen Bereichen da hinein wechseln. Deswegen erwarte ich, dass sich dort, wo wir gerade besonders stark eine "Fachkräftemangel" haben, etwas im Bereich der Löhne und im Bereich der Arbeitsbedingungen tun wird.

In meiner Heimatstadt Bonn gibt es dazu ein schönes Beispiel einer Friseurin, die wie alle Friseurmeisterinnen händeringend nach Bewerberinnen oder Bewerbern gesucht hat. Als sie aber eine Vier-Tage-Woche angeboten hat, konnte sie sich auswählen, wen sie einstellte und hat jetzt keinen Mangel mehr. Von einem allgemeinen Fachkräftemangel zu sprechen, halte ich für nicht angebracht.

Wobei auch die Friseurin nicht irgendwen anstellen konnte, sondern nur einen anderen Friseur oder eine andere Friseurin, die wiederum woanders dann fehlt. Es gibt schließlich nur eine begrenzte Anzahl an Friseuren. Und es dauert ein paar Jahre, bis wieder neue Friseure ausgebildet sind.

Bleiben wir am Beispiel der Friseurinnen und Friseure. Zum einen können die Kundinnen und Kunden sich überlegen, wie häufig sie ihre Haare zu welchem Preis schneiden lassen. Das ist die Nachfrageseite nach Friseurdienstleistungen. Und die andere Seite ist: Wie viele Menschen sind bereit, zu einem bestimmten Lohn, zu bestimmten Arbeitsbedingungen diese Dienstleistung auszuführen? Solche Fragen werden über den Preis durch den Markt geklärt. Und der Markt sagt uns vielleicht jetzt gerade, dass unter gegebenen Bedingungen der Beruf vielleicht noch attraktiver werden müsste oder sich auch Preise verändern müssen für Friseurdienstleistungen.

Wenn Friseure und Friseurinnen knapp sind, wird der Preis tendenziell steigen. Das heißt, dann entscheiden sich auf der Nachfrageseite vielleicht die Leute weniger häufig in den Friseursalon zu gehen. Auf der Angebotsseite gibt es außerdem nicht nur die Menschen, die in den Friseurberuf hinein wechseln. Es gib auch diejenigen, die beispielsweise vor der Entscheidung stehen, gehe ich jetzt in Rente oder nicht. Deren Entscheidung hängt auch am Lohn und den Arbeitsbedingungen.

"Es gibt keinen Fachkräftemangel"

Das gilt übrigens für ganz viele Bereiche. So wurde für den Bereich der Pflegeberufe nachgewiesen, dass dort über 200.000 Pflegerinnen und Pfleger, die inzwischen in anderen Berufen tätig sind, bereit wären, zurück in den Bereich der Pflege zu gehen, wenn die Löhne und die Arbeitsbedingungen entsprechend attraktiv wären.

Das heißt, am Ende ist die Frage des vermeidlichen Fachkräftemangels eine Frage der knappen Ressourcen. Wir haben nicht unendlich viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wir haben aber gerade so viele, wie wir noch nie hatten. Und der Frage ist: Wo wollen wir diese knappe Ressource Arbeit einsetzen?

Wenn wir alle inländischen Register ziehen, also wenn wir uns um die Ausbildung, die Weiterbildung kümmern, wenn wir Frauen wieder in den Erwerb bringen, wird es trotzdem nicht reichen, sagt Arbeitsminister Hubertus Heil. Wir brauchen qualifizierte Zuwanderung. Für sie war es ja kein Problem, nach Deutschland zu kommen. Aber wie sieht es für andere Menschen aus? Wie attraktiv ist Deutschland?

Deutschland ist ein sehr attraktiver Standort. Wenn Menschen gefragt werden, in welche Länder sie gerne einwandern würden, steht Deutschland regelmäßig relativ weit oben, neben den USA, einigen anderen europäischen Ländern und Neuseeland. Wir haben natürlich einen entscheidenden Nachteil gegenüber beispielsweise Neuseeland, den USA oder Kanada. Das ist die Sprachbarriere. Deutsch ist relativ schwierig, wird von wenigen Menschen auf der Welt gesprochen. Dagegen sprechen viele Menschen Englisch.

Wir haben aber auch Vorteile, wie einen funktionierenden Rechtsstaat oder ein stabiles politisches System. Solche Faktoren sind für eine langfristige Perspektive von Einwanderern wichtig. Sie schauen aber auch auf die Lohnhöhe und den potentiellen Lebensstandard, den sie sich im Einwanderungsland leisten können. Außerdem ist die Frage sehr wichtig, ob Migranten im Einwanderungsland erwünscht sind und ob sie Staatsbürgerin oder Staatsbürger werden können. 

Wie kann man die Gesellschaft so verändern oder so Anreize setzen, dass es eine größere Akzeptanz gegenüber Einwanderern gibt?

Den Menschen, die in Deutschland sind, sollte vermittelt werden, dass Einwanderung für sie einen Mehrwert hat. Ein Anreiz für Einwanderung wäre beispielsweise, das Einwanderungsrecht zu entbürokratisieren. Die Einwanderung könnte beispielsweise erleichtert werden, wenn Einwanderungswillige ein Arbeitsangebot haben, von einer deutschen Firma, die für ihre Angestellten eine Tarifbindung hat. Das würde anderen Firmen, die im Ausland nach Arbeitskräften suchen, den Anreiz geben, in Deutschland Tarifverträge auszuhandeln. Davon profitieren dann auch diejenigen, die schon in Deutschland sind.

Symbolbild | ausländische Arbeitnehmer in Deutschland
Deutschland braucht qualifizierte Einwanderung, meint Arbeitsminister Hubertus HeilBild: Sven Hoppe/dpa/picture alliance

Ich möchte nun noch mal mit Ihnen eine längerfristige Perspektive in den Blick nehmen: Es gibt Studien für die USA, die sagen, dass dort fast die Hälfte der Beschäftigten zurzeit in Berufen arbeiten, die in den nächsten  ein bis zwei Dekaden technisch automatisierbar sind. Was glauben Sie, wie sieht langfristig die Arbeitswelt der Zukunft aus?

Wie die Arbeitswelt künftig aussehen wird, gestalten wir selbst mit. Das heißt, die eine "Zukunft der Arbeit" gibt es nicht. Mit Blick auf die Vergangenheit sind solche Zahlen, wie die, die Sie gerade genannt haben, dass 50 Prozent der Berufe wegfallen, mit Vorsicht zu genießen. Aber die Arbeitswelten werden sich verändern - auch innerhalb von Berufen.

Ein schönes Beispiel dafür ist der Beruf des Schalterangestellten in Banken. Da gab es die Hypothese, mit der Einführung von Bankautomaten in 1980er Jahren, 1990er Jahren würde dieser Beruf komplett wegfallen. Tatsächlich stieg aber in den USA die Zahl der Schalterangestellten. Das lag daran, dass die Banken dank der Bankautomaten einfacher expandieren konnten. Allerdings hat sich die Tätigkeit der Bankangestellten verändert, von einer vielleicht etwas einfacheren Tätigkeit, Ein- und Auszahlungen zu tätigen, hin zu komplexeren Tätigkeiten wie Beratungsdienstleistungen.

Über lange Fristen sind zukünftige Entwicklungen zwar immer schwer vorherzusagen, aber eine Sache, die wir in der Vergangenheit gesehen haben, ist, dass technologischer Fortschritt nicht dazu geführt hat, dass uns die Arbeit insgesamt ausgeht. Aber es hat sich gezeigt, dass sich die Art von Arbeit verändert. Das heißt, es kommen neue Berufe hinzu, manche Berufe fallen weg und in anderen ändern sich die Tätigkeitsfelder innerhalb eines Berufes. Und ich denke, dass es auch in Zukunft so sein wird.

Welche Arbeitsfelder haben denn noch eine Zukunft? Mit anderen Worten - was würden Sie Ihren Kindern raten, in welcher Richtung sollten sie bei der Berufswahl gehen?

Sie sollten den Beruf wählen, der ihnen am meisten Freude bereitet, weil es sehr schwer vorherzusagen ist, in welche Richtung sich sozusagen der Wind drehen wird. In der Vergangenheit haben wir gesehen, dass Technologien insbesondere Tätigkeiten ersetzt haben, die einfach von Maschinen und Computer durchgeführt werden können. Also alles, was standardisierbar ist, Routinetätigkeiten, wie Dinge sortieren, Dinge ordnen. Durch technologischen Fortschritt hat es in der Vergangenheit eine Art Aushöhlung der Mitte des Arbeitsmarktes gegeben. Bestimmte Tätigkeiten, wie beispielsweise die des Bibliothekars oder der Bibliothekarin haben sich stark verändert und sie werden auch weniger gebraucht. Einfach dadurch, dass wir ganz viele Informationen über Computer sehr schnell abrufen können.

Aufgrund des technologischen Fortschritts gibt es aber auch mehr Nachfrage für Tätigkeiten an beiden Enden der Lohnverteilung, also am oberen Ende und am unteren Ende. Es werden hochkomplexe Tätigkeiten stärker nachgefragt, beispielsweise von Softwareentwicklern, aber auch im medizinischen Bereich.

Mehr nachgefragt werden auch sehr einfache Dienstleistungstätigkeiten, beispielsweise Helfertätigkeiten im Bereich Gartenbau, also solche Tätigkeiten, die sehr schwer durch Maschinen ersetzbar sind, weil es keine Routinetätigkeiten sind und weil jeder Arbeitsschritt sehr individuell ist.

Inzwischen haben wir aber neue Technologien, wie beispielsweise das Sprachprogramm ChatGPT, das mit künstlicher Intelligenz arbeitet. Solche Technologien können vielleicht auch bei Nicht-Routinetätigkeiten eingesetzt werden. Da ist noch nicht klar, in welche Richtung das gehen wird.

Irland Long Room, Trinity College, Dublin - Bibliothek
Was früher in Bibliotheken rausgesucht werden musste, lässt sich inzwischen schnell im Internet recherchierenBild: Imago/imagebroker

Sie glauben aber, dass es in Zukunft nicht nur für hochgebildete Menschen Arbeit geben wird, sondern auch weiterhin im Niedriglohnsektor?

Ja, ich denke, wir haben es entscheidend in der Hand, wie wir das gestalten wollen. Bisher haben wir wenig Leitplanken gesetzt und so dafür gesorgt, dass technologischer Fortschritt mit dazu beigetragen hat, dass sich der Niedriglohnsektor mit vielen einfachen Tätigkeiten, die häufig standardisiert sind, vergrößert hat. Nehmen wir den Beruf des Taxifahrers oder der Taxifahrerin. Der war einmal sehr anspruchsvoll, weil sehr viel Ortskenntnis, auch sehr gute Kommunikationsfähigkeiten, teilweise in verschiedenen Sprachen, erforderlich waren. Mit Apps für Navigationshilfen oder Übersetzungen ist die Einstiegsschwelle für Fahrdienstleistungen inzwischen viel niedriger, deswegen gibt es sowas wie Uber.

Wir müssen aber gesellschaftlich entscheiden, inwiefern sehr viele solcher einfachen Tätigkeiten, die häufig nicht besonders gut entlohnt sind, die teilweise prekäre Arbeitsbedingungen aufweisen, entstehen sollen. Und wir müssen uns fragen, ob wir beispielsweise durch Institutionen am Arbeitsmarkt, wie Mindestlöhne oder Tarifbindung, bestimmte Schranken einziehen wollen.

Insa Wrede, DW-Mitarbeiterin
Insa Wrede Redakteurin in der Wirtschaftsredaktion