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Eskalation der Corona-Proteste

14. Dezember 2021

In Deutschland wird der Protest gegen die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung immer militanter. Als treibende Kraft sehen Behörden den Messengerdienst Telegram.

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Coronavirus - Protest gegen Corona-Politik in Greiz
Bild: Bodo Schackow/dpa/picture alliance

Wer auf dem Messengerdienst Telegram den selbsternannten "Freien Sachsen" folgt, der folgt Deutschland gerade in den Abgrund. Die Nachrichten sind düster. Söldnerbanden seien derzeit unterwegs. Schläger. Ein Mob regiere die Straße. Die Rede ist vom "Krieg gegen Impfgegner". Geführt werde er von einem Regime und einem Despoten.

Wen die "Freien Sachsen" hier ins Visier nehmen, sind nicht Verbrecherbanden, sondern demokratische Institutionen: den gewählten Ministerpräsidenten des Bundeslandes, Michael Kretschmer, sowie die Polizei.

Zehntausende Menschen lesen diese aufgeheizten und oft hetzerischen Meldungen. Und es bleibt nicht beim Lesen. Auf Telegram vernetzen sie sich und organisieren oftmals illegale Versammlungen. Auch am Montag, den 13. Dezember, wieder. Sie versammelten sich in dutzenden Städten. Es kam zu Ausschreitungen. Mehrere Polizisten wurden verletzt.

Radikale Köpfe in bürgerlichem Gewand

Schwerpunkt ist das Bundesland Sachsen. Der Protest kommt meist bürgerlich daher. Ältere Damen und Herren im Winterblouson geben ihm den nachbarschaftlichen Anstrich. Sie wirken ganz unbescholten und ehrlich aufgebracht. Über die Kontaktbeschränkungen. Die mögliche Einführung einer Impfpflicht. Und die Politik der Regierenden.

Deutschland Fotopreis der Rückblende 2020 | Christian Mang
Experten sehen in der Wut auf der Straße keinen spontanen Unmut, sondern organisierte Eskalation Bild: Christian Mang/Rückblende 2020/dpa/picture alliance

Beobachter halten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aber für alles andere als harmlos. Benjamin Winkler von der Berliner Amadeu-Antonio-Stiftung beobachtet die Entwicklung in Sachsen seit Jahren. Er sieht in den Protesten keinen spontanen nachbarschaftlichen Unmut.

"Diejenigen, die maßgeblich auf die Straße gehen, sind eine Mischung aus rechtsextremer Szene, der Reichsbürgerszene, Verschwörungsideologen, die Hooligans und eine alternative Esoterikerszene." Unterstützt wird der Protest auch zunehmend von der AfD, die in Sachsen mittlerweile fest verankert ist.

Brandbeschleuniger Telegram

Organisiert und orchestriert wird der Protest von den selbsternannten "Freien Sachsen". Sie sind eine regionale Kleinstpartei, die aber derzeit über die sozialen Medien eine enorme Aufmerksamkeit und Reichweite erzielt - und das mittlerweile bis weit über das Bundesland hinaus. Die Organisation wird vom sächsischen Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft. Zahlreiche Köpfe sind fest in radikalen und auch neonazistischen Organisationen eingebunden.

Messaging Apps Illustration Telegram Symbolbild
Messengerdienst Telegram: seit Jahren wächst die Kritik über zunehmenden Hass und Hetze auf der PlattformBild: Jakub Porzycki/NurPhoto/picture alliance

Ihren Hass verbreiten sie vor allem über den in Russland gegründeten Messengerdienst Telegram mit Sitz in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Telegram gilt als wenig kooperativ. Nach Informationen des Rechercheteams von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung ist die Betreiberfirma für deutsche Behörden kaum greifbar. Das nutzen die "Freien Sachsen": Sie haben allein in Sachsen ein Netz von 100 Kanälen und 80 regionalen Gruppen aufgebaut, warnt Simone Raffael von der Amadeu-Antonio-Stiftung.

"Der Hauptkanal wächst aktuell stündlich. Wir beobachten in den Kanälen und Gruppen eine fortwährende Radikalisierung im Ton – auch der Nutzer."

Radikaler werden auch die Proteste. Erst vor kurzem versammelten sich "Freie Sachsen" mit Trillerpfeifen, Trommeln und Fackeln vor dem Wohnhaus der sächsischen Gesundheitsministerin. In Deutschland ist das ein absoluter Tabubruch und erinnert viele Menschen an die Anfänge des Straßenterrors der NS-Bewegung. Zumal 2019 der CDU-Politiker Walter Lübcke von einem Rechtsextremisten in seinem Wohnhaus erschossen wurde. 

Neue Bundesregierung kündigt Maßnahmen an

Die neue Bundesinnenministerin Nancy Faeser von den Sozialdemokraten hat Telegram ins Visier genommen. "Gegen Hetze, Gewalt und Hass im Netz müssen wir entschlossener vorgehen", sagte Faeser und kritisierte scharf, dass Telegram gegen deutsches Recht verstoße und auf entsprechende Verfahren noch nicht einmal reagiere. "Das wird diese Bundesregierung so nicht hinnehmen."

Nancy Faeser | künftige Innenministerin Deutschland
Neue deutsche Innenministerin: Nancy Faeser hat den Kampf gegen Rechtsextremismus zur wichtigsten Herausforderung erklärtBild: Fredrik Von Erichsen/dpa/picture alliance

Widerstand gegen die militanten und organisierten Corona-Proteste gibt es aber zunehmend auch in der Zivilgesellschaft. Doritta Korte würde selbst gerne auf die Straße gehen, aber sie tut es derzeit nicht. Sie lebt in der sächsischen Stadt Plauen und kämpft seit Jahren im Verein Colorido für Demokratie und ein friedliches Zusammenleben in der Stadt.

Korte beobachtet, dass die Szene aus Rechtsextremisten und Corona-Leugnern immer radikaler werde. "Wir erhalten Drohungen bis hin zu Morddrohungen", erzählt sie. Viele Mitglieder in ihrem Verein stießen an ihre Grenzen. "Wir haben tote Tiere im Briefkasten." Sie beklagt die mangelnde Unterstützung durch die Politik und dass die Landesregierung zu wenig gegen die militanten und meist illegalen Corona-Proteste unternehme.

Auch die leise Mehrheit wird lauter

Vor allem auch in Sachsen. In vielen Kleinstädten schließen sich die Bewohner zusammen und starten selbst öffentliche Aufrufe. Sie werfen den Corona-Protestlern vor, dass sie die Pandemie nur nutzen, um Krawall zu stiften, die Demokratie zu gefährden und die Gesellschaft zu spalten. Die Zahl der Unterstützer ist beachtlich.

Während zum Beispiel in der Stadt Bautzen einige hundert Reichsbürger und Rechtsextremisten mit ihrem Protest seit Monaten für Schlagzeilen sorgen, haben mehr als 3.000 Menschen die "Erklärung - Bautzen gemeinsam" unterschrieben - innerhalb nur eines Tages.

Deutsche Welle Pfeifer Hans Portrait
Hans Pfeifer Autor und Reporter