Essbare Stadt: Reife Früchte am Straßenrand
15. August 2015Die Zucchini sind weg - abgeerntet. Nur hier und da ist noch eine gelbe Knolle zu erkennen. Dafür ist der Kürbis riesig. "An den hat sich noch keiner getraut", sagt Frau Pfeiffer, die bei schönstem Sonnenschein ihrem kleinen Hund Lutz Gassi geht. "Ich warte, dass ich die Weintrauben stibitzen kann", fügt sie hinzu, zwinkert und schiebt ihren Rollator davon. Lutz schnuppert an der orange-blühenden Kapuzinerkresse am Wegesrand. Als er sein Bein heben will, zieht Frauchen ihn mit einem kurzen, gefühlvollen Ruck weiter.
Mispel, Quitte, Kaki - entlang Andernachs Stadtmauer gedeihen schon in Vergessenheit geratene und exotische Obstbäume neben den Klassikern Bohnen, Erdbeeren und Co. Wenige Meter weiter zwischen Weißkohl und Kohlrabi steht "Nicht erntereif" auf einem Schild. "Wir haben kein Problem mit Vandalismus, seitdem wir die Beete mit Nutzpflanzen bepflanzen", erzählt Karl Werf vom Jugendamt der Stadt Andernach und Mit-Organisator des Projekts "Essbare Stadt". Einzige Schwierigkeit sei, dass Bürger die Früchte ernten, obwohl sie noch nicht richtig reif oder ausgewachsen sind.
Pflücken erlaubt statt Betreten verboten
Die in der Sonne grün leuchtenden Weintrauben machen jedenfalls Lust darauf, sie in wenigen Wochen tatsächlich naschen zu können. "Mit unserer 'Essbaren Stadt' haben wir wohl gerade den Zeitgeist getroffen. Die Menschen haben Lust, die Stadt zu erobern und in der Erde zu wühlen", berichtet Werf. "Urban Gardening" ist das moderne Schlagwort. Brachflächen, Kreisverkehre oder Grünstreifen werden zum Gemüsebeet für Jedermann.
Ob Mangold oder Rotkohl - die vielen bunten Gemüsesorten sollen in der Stadt am Rhein nicht nur öffentliche Plätze begrünen, sondern der ökologischen Aufwertung der Stadt dienen. Auf kleinen Plätzchen und an Gebäudeecken stehen Holzkisten mit Kräutermischungen. Die Bürger ernten, was von der Stadt gesät wurde. "Salat und Kohlrabi habe ich schon mal mitgenommen", berichtet eine Frau, die ihre Mittagspause auf einer Bank in der Sonne zwischen den Rabatten genießt. Eine Mutter schiebt ihren Kinderwagen über den Kiesweg. Die Idee, dass sich jeder bedienen kann, findet sie klasse. Bei Spaziergängen halte sie immer nach reifen Früchten Ausschau. Ob sie Bedenken hätte, dass Hinterlassenschaften der Vierbeiner den Appetit auf das frische Obst und Gemüse am Wegesrand schmälern könnten? Die Dame schüttelt den Kopf. "Selbst wenn. Durch meinen Garten laufen Katzen und Marder. Die Bauern düngen doch auch - das kann man abwaschen."
Gestärkter Tourismus
Das Interesse am "Essbaren Andernach" ist enorm. Karl Werf führt Reporterteams und internationale Delegationen durch die Straßen, um die Lust am Gärtnern in der Stadt zu wecken. Auf einer Fläche außerhalb des Zentrums werden Obst und Gemüse kommerziell angebaut - ohne Gewächshaus, ganz im Einklang mit den Jahreszeiten. Es ist ein Lehrgarten, der als Muster für sogenannte Perma-Kulturen dient. Seltene und vom Aussterben bedrohte Schweine-, Hühner-, Rinder- und Schafrassen werden dort ebenso gehalten. Diese regionalen und saisonalen Produkte finden Absatz.
Das Konzept lockt außerdem Touristen an. "Wir sind extra wegen der 'Essbaren Stadt' nach Andernach gekommen", sagt ein Ehepaar aus der Pfalz und strahlt. "Wir interessieren uns sehr für Staudengewächse. Unser Garten ist voll davon. Bei uns im Vorgarten wachsen keine Rosen, sondern Disteln und Kohl." Mit Hut und Rucksack wandern sie durch das Stadttor und folgen der ausgeschilderten Route.
Ein Geben und Nehmen
Sicherlich seien die Beete pflegeintensiv, aber die Zeit werde durch das ganzheitliche Projekt wieder eingespart, sagt Mit-Organisator Karl Werf. Stolz berichtet er von Touristen, die sich nach dem Namen der prunkvoll blühenden Pflanzen auf den Blumenbeeten erkunden - die eigentlich Kartoffelacker oder Kräuterbeete sind. Inmitten der Beete hacken und jäten einige Männer die Flächen. Das Projekt hat auch eine soziale Komponente: Langzeitarbeitslose und Asylbewerber bereiten sich hier auf den Einstieg in ein Arbeitsleben vor - ein ganzheitlicher und nachhaltiger Ansatz, erklärt Karl Werf.
"Ich freue mich auf die Arbeit hier, weil ich wieder einen geregelten Tagesablauf habe", erzählt ein Mitarbeiter, der lieber anonym bleiben möchte. Auch wenn ihn hier jeder zwischen den Blumen und Gemüsebeeten knien sieht, ist es im unangenehm über seine Erwerbslosigkeit zu sprechen. Doch eins sei ihm wichtig, betont er: Mit seiner Arbeit hier könne er etwas an die Gesellschaft zurückgeben, die ihn in einer schwierigen Zeit finanziell unterstützt.