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Estlands Präsident: "Russland betrachtet Demokratie als Bedrohung"

15. Februar 2007

Bei einem Besuch der Deutschen Welle sprach der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves über das spät erwachte Interesse der Europäer an russischer Energiepolitik, Vergangenheitsbewältigung und scharfe Töne aus Moskau.

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Toomas Hendrik IlvesBild: picture-alliance/dpa

Die Unabhängigkeit seines Landes hat er in München erlebt, als Leiter des estnischen Dienstes von Radio Free Europe. Jetzt sitzt Präsident Toomas Henrik Ilves auf Einladung der Deutschen Welle in Berlin an einem Runden Tisch mit Redakteuren führender deutscher Zeitungen. Das Staatsoberhaupt kann gut Deutsch, spricht über die mitunter heiklen politischen Themen aber lieber Englisch. Das beherrscht er perfekt, nach Studium und langer Berufstätigkeit in den USA und Kanada.

Demokratie als Bedrohung?

Der 53-jährige Ilves mit bunter Fliege schmunzelt, als er auf die Rede des russischen Präsidenten in München angesprochen wird. "So wie Wladimir Putin in seiner Rede zu den Vereinigten Staaten und Westeuropa gesprochen hat, so bekommen die neuen EU-Mitgliedsstaaten es seit langem zu hören. Es ist nur so, dass sie früher zu uns anders gesprochen haben als zu euch." Den scharfen Worten Putins entgegnet Ilves: "Russland betrachtet Demokratie an seinen Grenzen als Bedrohung und etwas Schlechtes. Als die baltischen Staaten unabhängig wurden, wurden wir schlecht. Solange die Ukraine und Georgien undemokratische Regierungen hatten, waren sie für Russland in Ordnung, als sie aber demokratische Revolutionen hatten, wurden sie plötzlich zur Zielscheibe."

Dass der Energielieferstopp für die Ukraine im vergangenen Jahr im Westen als Weckruf empfunden wurde, amüsiert den estnischen Präsidenten: "Ihr habt einfach 15 Jahre lang die Schlummertaste gedrückt. Den Energiehahn abzudrehen war schon 1990 die Politik der Sowjetunion, als Litauen die Unabhängigkeit wählte und die Öl- und Gaslieferungen eingestellt wurden."

Streit um Sowjet-Denkmal

Im Moment ist Estland mal wieder im Visier Moskaus. Das estnische Parlament will ein sowjetisches Denkmal in Tallinn aus dem Stadtzentrum entfernen, das an die Befreiung von den Nazis erinnern soll, und die russischen Medien schäumen. Für die Esten sei es keine Befreiung gewesen, sagt Ilves. Denn die baltischen Staaten seien zunächst 1940 nach dem Hitler-Stalin-Pakt von den Sowjets besetzt worden, bevor die Deutschen kamen. Und die sowjetische Besatzung sei schrecklich gewesen: "56 Prozent der Esten haben einen Verwandten, der erschossen wurde, ins Exil musste oder nach Sibirien deportiert wurde."

Fehlende Vergangenheitsbewältigung

Für die Reaktionen der Russen hat der estnische Präsident auch Erklärungen: "Das wahre Problem ist, dass es in Russland bisher keine Vergangenheitsbewältigung gibt." Der russische Gemeindienst feiere noch heute den Gründungstag des bolschewistischen Vorgängers Tsche-Ka, sagt der estnische Präsident und zieht einen Vergleich mit den deutschen Geheimdiensten: "Können Sie sich vorstellen, dass Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst den Gründungstag der Gestapo als ihren Gründungstag betrachten? Das wäre völlig abwegig."

Peter Stützle
DW-RADIO, 12.2.2007, Fokus Ost-Südost