EU-Gipfel: Wieder heftiger Streit um Migration
6. Oktober 2023Nach dem großen Europa-Gipfel der EPG mit fast allen europäischen Staaten außer Russland und Belarus am Donnerstag trafen sich am Freitag nur noch die 27 Mitglieder der Europäischen Union zu einem informellen Gipfel. Ein entspannt wirkender Bundeskanzler Olaf Scholz meinte zu Beginn des Treffens im sonnigen Granada, das Schöne an informellen Runden sei, dass die Regierungschefinnen und -chefs "ohne Druck einer Entscheidung diskutieren können."
Der Vorsitzende der Runde, EU-Ratspräsident Charles Michel, hatte die relativ simplen und umfassenden Leitfragen für den Austausch so formuliert: "Was wollen wir gemeinsam machen? Wie wollen wir es umsetzen? Und wie wollen wir es bezahlen?" Michel wollte über die Strategie der EU für die künftigen Jahre diskutieren, doch die Redebeiträge kreisten hauptsächlich um die EU-Erweiterung um bis zu acht Länder bis zum Jahr 2030 und um die Steuerung der rechtmäßigen und unrechtmäßigen Migration nach Europa. Ob man Kompromisse finden könne, wurde Bundeskanzler Olof Scholz gefragt. "Wir sind alle erwachsene Leute", war seine Antwort.
Gemeinsame Aussagen zur Migration fielen aus
Nicht ganz so entspannt sahen dass der polnische und der ungarische Premierminister, die eine geplante gemeinsame Erklärung der Gipfelrunde zur Migrationspolitik nach einer langen und spannungsgeladenen Diskussion mit ihrem Veto blockierten.
Der Ungar Viktor Orban schimpfte wie ein Rohrspatz auf die Vorstellungen der EU-Innenminister zu einem neuen Migrationspakt. Orban sagte, er fühle sich "rechtlich vergewaltigt", weil Ungarn und Polen bei der entscheidenden Abstimmung zum neuen Migrationspakt der EU vor zwei Tagen überstimmt worden seien. Der ungarische Premier erwähnte aber nicht, dass für dieses Verfahren nach den EU-Regeln Mehrheitsentscheidungen ausdrücklich vorgesehen sind.
Der polnische Premier Mateusz Morawiecki sprach von einem "Diktat aus Brüssel und Berlin", dem man sich nicht beuge würde. Andere Regierungschefs sähen das auch so, behauptete er.
Ungarn und Polen lehnen es vor allem ab, zugewiesene Asylbewerber aufzunehmen oder ersatzweise Geldzahlungen zu leisten. Diese "verpflichtende Solidarität" ist Teil des komplexen Migrationspaktes, der allerdings erst in zwei Jahren in Kraft trifft und noch die Zustimmung des Europäischen Parlaments braucht.
Scholz kritisiert Polen und Ungarn
Bundeskanzler Olaf Scholz kritisierte im Gegenzug Polen und Ungarn. Gerade Staaten, die hier den Migrationspakt ablehnten und für eine harte Linie stünden, seien diejenigen, die Migranten einfach nach Deutschland durchwinkten. Das könne so nicht sein, so Scholz. Deutschland ist das Land in der EU, dass die meisten Asylbewerber aufnehme. In Deutschland wurden laut EU-Statistikbehörde 2022 über 240.000 Asylanträge gestellt. Ungarn hat im Jahr 2022 gerade einmal 46 Asylbewerber registriert.
Mehr Abkommen mit Transitländern
Dass der Migrationspakt nicht kurzfristig helfen wird, die zurzeit hohen Zahlen von ankommenden Migranten an den Mittelmeerküsten zu senken, weiß die EU-Kommissionspräsident Ursula von der Leyen. Deshalb hat sie im Sommer versucht, ein Abkommen mit Tunesien auszuhandeln. Tunesien soll gegen Finanzhilfen mithelfen, Migranten von der Überfahrt nach Italien abzuhalten. Das Problem ist nur, dass der tunesische Präsident Kais Saied einen Rückzieher gemacht hat und die prinzipielle Vereinbarung ablehnt, weil sie Tunesien nur Almosen biete. Trotzdem beschlossen die EU-Staaten in Granada zum wiederholten Male mehr solche Migrationsabkommen mit Transit- und Herkunftsländern der Migranten zu schließen. Die EU-Kommission soll sie mit Staaten südlich der Sahara aushandeln.
Ursula von der Leyen sieht in diesen Abkommen, die nach Meinung von Kritikern die Migrationsproblematik in Drittstaaten auslagern sollen, kein Problem. "Wir haben internationale Verpflichtungen und die werden wir erfüllen", sagte die Kommissionspräsidentin mit Blick auf Flüchtlingskonventionen und Asylrecht. "Aber wir als Europäer werden entscheiden, wer unter welchen Bedingungen nach Europa kommt. Nicht die Schmuggler und Menschenhändler."
Scholz will künftig keine Seenotrettung finanzieren
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell brachte erneut eine EU-Marinemission zusammen mit der tunesischen Küstenwache ins Spiel, um Migranten in den Hoheitsgewässern Tunesiens abzufangen. Einen ähnlichen Vorschlag hatte die rechtsradikale italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gemacht. Meloni hatte sich am Rande des Gipfel auch zum Gespräch mit Bundeskanzler Scholz getroffen. Sie erreichte, dass Scholz sich von staatlichen Zuschüssen an deutsche Nichtregierungsorganisationen distanzierte, die auf dem Mittelmeer schiffbrüchige Migranten retten und hauptsächlich nach Italien bringen. Der Bundeskanzler sagte, seine Regierung habe diese Mittel nicht beantragt, sondern der Bundestag habe sie freigegeben. Zwei Millionen Euro sollen an die privaten Rettungsorganisationen fließen. Italiens Regierung hatte sich darüber beschwert und verlangt, dass auch Deutschland die geretteten Flüchtlinge aufnehmen solle.
Aufnahme der Ukraine soll zügig erfolgen
Bei der Erweiterung der Europäischen Union, um die sich die Ukraine, Moldau und sechs westliche Balkanstaaten bewerben, hatte es zuletzt positive Signale gegeben. Der Außenbeauftragte Josep Borrell sprach von neuem Schwung und EU-Ratspräsident Charles Michel hatte das Jahr 2030 als Beitrittsdatum ausgegeben. Auch die Berliner Ampelkoalition liebäugelt mit diesem Ziel. Bundeskanzler Olaf Scholz meinte in Granada erneut, nach 20 Jahren sei es an der Zeit, die Versprechen gegenüber den Ländern auf den Westbalkan für eine Zukunft in der EU endlich einzulösen. Natürlich ginge das nur, wenn die Länder die entsprechenden Beitrittskriterien erfüllten, wird von den führenden EU-Politikern betont.
Diskutiert haben die Staats- und Regierungschefs heute vor allem, wie die Union selbst fitgemacht werden soll, um aufnahmefähig für neue Mitglieder zu werden. Bundeskanzler Scholz schlug eine Verkleinerung der EU-Kommission vor. Nicht jedes Mitgliedsland könne in Zukunft einen EU-Kommissar stellen, wenn über 30 Staaten Mitglieder sein sollten. "Man kann nicht einfach die Regierung immer weiter erweitern und neue Ministerien erfinden. Da wird man eine pragmatische Lösung finden müssen", sagte Scholz. Deutschland als größtes Mitgliedsland würde wohl auch auf Sitze im Europäischen Parlament verzichten müssen.
Umstritten ist der deutsch-französische Vorschlag, die Mehrheitsentscheidungen in der EU auszuweiten, damit einzelne Länder die Gesetzgebung nicht mit einem Veto blockieren können. Mehrheitsentscheidungen seien zum Bespiel in der Außenpolitik und in der Steuerpolitik sinnvoll, "damit die Souveränität und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union gewährleistet ist", glaubt Kanzler Olaf Scholz.
Wenn aber einzelne Länder wie Polen und Ungarn sich nicht an Mehrheitsentscheidungen halten wollen und stattdessen Diktat und Vergewaltigung schreien, funktioniert das ganze System nicht mehr, warnte der Premier von Luxemburg, Xavier Bettel, nach dem Gipfel. "Denn sonst kommen wir nicht mehr weiter, wenn alle blockieren bei Themen, die ihnen nicht passen. Wir sind in einer Demokratie und da muss man sich an Regeln halten."
Aufnahme der Ukraine wird kostspielig - auch für Ungarn und Polen
Die Aufnahme der Ukraine und anderer Bewerber in die EU würde auch eine neue Ausrichtung des Haushalts erfordern. Agrarsubventionen und Aufbauhilfen müssten neu ausgehandelt werden, weil gerade die kriegsgebeutelte Ukraine einen riesigen Finanzbedarf hätte. "Jeder weiß, dass es nicht so bleiben kann, dass alle, die heute Nettozahlungen empfangen, auch damit rechnen können, dass das in Zukunft so bleibt", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz. "Sondern sie werden dann zu Wachstumsprozessen in den Mitgliedsländern mit beitragen müssen."
Für heutige Nettoempfänger in der EU wie Spanien, Griechenland, Polen und Ungarn könnte das bedeuten, dass sie nach 2030 zahlen müssten, statt etwas aus dem gemeinsamen Haushalt zu bekommen. Für die Erweiterung wäre dann übrigens wieder Einstimmigkeit erforderlich. Alle Staaten müssten zustimmen. Das könnte noch spannend werden. Ungarn, Polen und vielleicht auch die Slowakei nach einem bevorstehenden Regierungswechsel werden wohl Bedenken anmelden.