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Politik

"EU trägt Mitverantwortung in Syrien"

3. März 2020

In Idlib spitzt sich die Lage durch die militärische Präsenz der Türkei zu. Die EU sei mit ihrer Flüchtlingspolitik gescheitert, sagt Till Küster, Syrienkoordinator von Medico International, im DW-Interview.

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Syrien Russische Luftangriffe in Qaminas
Bild: AFP/I. Yasouf

DW: In der Provinz Idlib kämpft nun nicht mehr allein die syrische Armee mit ihren Verbündeten. Auch die Türkei ist dort jetzt militärisch engagiert. Wie stellt sich die Lage derzeit dar?

Till Küster: Schon seit Monaten ist die Lage in Idlib katastrophal, seit Monaten wird auch vor einer humanitären Katastrophe gewarnt.  Seit knapp drei Tagen attackiert die Türkei - überwiegend durch Luftschläge - Stellungen der syrischen Armee, aber auch Milizen der Hisbollah und afghanischer Kämpfer. Das geschieht vor allem überwiegend mit Drohnen. Es handelt sich um Angriffe großer Intensität. Es werden zunehmend auch Flugzeuge der syrischen Armee abgeschossen. Das ist eine Entwicklung, die es in den vergangenen neun Jahren in dieser Form noch nicht gegeben hat.

Was bedeutet das für die Zivilisten?

Schon seit Wochen herrschen Angst und Panik unter der Zivilbevölkerung, da die syrische Armee immer näher an die Millionenstadt Idlib heranrückte. Dadurch wurden rund eine Millionen Menschen in die Flucht getrieben. In den letzten Tagen wurden Teile dieses Gebiets von türkischen Kräften zurückerobert. Darüber wurde der Vormarsch der syrischen Armee gestoppt. Gleichwohl hat sich für die Zivilisten nicht viel geändert. Sie stehen nun zwischen mehreren Fronten und versuchen in Richtung der von der Türkei völkerrechtswidrig annektierten Region im Norden Syriens zu fliehen.

Deutschland Medico International | Till Küster
Till Küster, Syrienkoordinator Medico InternationalBild: Medico International

Wie ist die humanitäre Lage dort?

Sie ist katastrophal, denn die Versorgung der innerhalb kürzester Zeit eingetroffen Menschen ist kaum zu leisten. Für die knapp eine Millionen der Gestrandeten gibt es kein funktionierendes Hilfsprogramm - zumindest können sie nicht sofort adäquat versorgt werden. Vielen Menschen steht überhaupt kein Geld zur Verfügung. Mindestens 170.000 Menschen müssen momentan zudem im Freien campieren - teils bei Minusgraden. Es gibt Bilder von erfrorenen Flüchtlingsfamilien, darunter auch sehr viele Kinder, die aufgrund der Kälte ihr Leben verloren haben. Das gesamte Hilfesystem ist komplett überlastet.

Jetzt spitzt sich die Lage auch an einer anderen Grenze zu, nämlich der zwischen der Türkei und Griechenland. Dort fallen offenbar auch Schüsse. Wie ist die Lage dort?

Erdogan treibt dort ein zynisches Spiel. Es gab in den letzten Jahren immer wieder Drohungen der Türkei, Flüchtlinge nicht mehr in der Türkei aufzuhalten, sondern sie weiter zu schicken. Jetzt sehen wir Bilder von Bussen, mit denen Flüchtlinge direkt an die Grenze nach Griechenland oder Bulgarien gebracht werden - übrigens nicht nur syrische Flüchtlinge, sondern auch sehr viele afghanische Flüchtlinge. Die Türkei ist nämlich Transitland für fast 200.000 afghanische Flüchtlinge nach Europa. Und natürlich muss man auch sagen: Erdogan instrumentalisiert zwar die Flüchtlinge, gleichzeitig ist aber ihr Wunsch, nach Europa zu gelangen, real.

Zugleich sehen wir, dass die Grenzpolitik der EU sich weiter brutalisiert. Jetzt geht es offenbar nur noch darum, die Grenzen zu sichern. Es wird geschossen, die griechische Küstenwache versucht Schlauchboote zu rammen oder fährt ganz nah an ihnen vorbei, um die Insassen zu verängstigen. Das sind alles Aktionen, die sich direkt gegen die Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention richten.

Würden Sie sagen, die bisherige Flüchtlingspolitik der EU steht auf der Kippe?

Die EU steht dieser Tage vor einer gravierenden Entscheidung. Es geht ja nicht nur um die Situation an der Grenze. Sondern Europa hat die Lage von Millionen Menschen seit Jahren ausgeblendet und gemeint, man könne deren Probleme schlicht aussperren. Das ist vor dem Hintergrund von 3,5 Millionen syrischen Flüchtlingen allein in der Türkei bzw. 1,5 Millionen Flüchtlingen, die momentan in Idlib an der Grenze und im Norden Syriens ausharren, natürlich illusorisch. Sollte Erdogan seine Drohung wahr machen und Flüchtlinge in erheblich größerer Zahl an die Grenze zur EU passieren lassen, stellt sich die Frage, die man sei Jahren verdrängt, mit viel größerer Dringlichkeit: Richtet man Waffen gegen die Flüchtlinge, setzt man Tränengas ein, versucht man Boote zu versenken? Oder findet man endlich eine politische Lösung, die die Menschenrechte der Flüchtlinge achtet und ihre Schutzbedürftigkeit respektiert? Das ist die Entscheidung, vor der die EU steht.

Was müsste jetzt geschehen?

Man muss feststellen, dass Europas Abschottungspolitik komplett gescheitert ist. Das hat auch mit dem Umstand zu tun, dass man die Situation in Syrien überhaupt nicht lösen wollte oder lösen konnte. Man hat auf der einen Seite Grenzen dicht gemacht, auf der anderen Seite aber Akteuren wie dem Assad-Regime und der Türkei freie Hand gelassen. Die Konsequenz ist nun eine erneute Massenflucht. Wer zum einen die Grenzen dicht macht, zum anderen aber keine politische Lösung in Syrien selbst anbieten kann oder an einer solchen mitarbeitet, der trägt in unseren Augen ebenfalls Verantwortung für das derzeitige Desaster. Man kann nicht Grenzen abriegeln und Menschen zurückweisen gleichzeitig aber die Gründe ihrer Flucht über Jahre ignorieren und sogar gleichzeitig Waffen für neuen Krieg liefern, zu Beispiel an die Türkei.

Das Interview führte Kersten Knipp.

Till Küster ist Syrienkoordinator der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation Medico International.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika