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Politik

Bittere Lehren aus Afghanistan

Barbara Wesel
17. August 2021

Die EU will in Afghanistan zunächst die Evakuierungen sicherstellen, erklärt Chefdiplomat Borrell nach einem Außenministertreffen. Mit den Taliban sei ein pragmatischer Umgang nötig. Die NATO räumt derweil Fehler ein.

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Der EU-Außenbeauftragte Borrell (oben) während der Videokonferenz mit den Außenministern
Der EU-Außenbeauftragte Borrell (oben) während der Videokonferenz mit den AußenministernBild: Johanna GeronReuters/AP/dpa/picture alliance

Der Fall Afghanistans an die Taliban sei das "wichtigste geopolitische Ereignis seit der Annexion der Krim", sagt Josep Borrell nach einem Krisentreffen mit den europäischen Außenministern. Seine Kollegen seien sehr deutlich gewesen bei der Beschreibung des Geschehens und der Konsequenzen, fügt der EU-Chefdiplomat hinzu. Die Auswirkungen auf die regionale und internationale Sicherheitslage würden enorm sein. "Man hätte das besser managen können", ist allerdings die einzige Kritik, die Borrell sich gegen die USA erlaubt.

Geopolitische Lehren

Man müsse sich fragen, welchen Sinn der Versuch des "Nation Building" in Afghanistan gehabt habe, wo der beispiellose Einsatz von Ressourcen zu einer sehr "begrenzten Widerstandsfähigkeit" der afghanischen Armee und Regierung geführt hätten. Ein seltener ironischer Zungenschlag beim EU-Chefdiplomaten - Regierung und Armee hatten sich innerhalb von Tagen ergeben. Einen Staat aufzubauen habe nur dann Sinn, folgert Borrell aus dem Drama der vergangenen Tage, wenn die Bevölkerung dies aus eigenem Antrieb unterstütze.

Josep Borrell, Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik
Josep Borrell, Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und SicherheitspolitikBild: Thomas Koehler/photothek/picture alliance

Jetzt müsse man aus den Ereignissen lernen und der Zukunft ins Gesicht sehen. Fehler seien gemacht worden, erklärt Borrell, auch bei der Einschätzung der afghanischen Armee. Alle seien von ihrer Schwäche überrascht worden, nachdem sie so viel Hilfe bekommen habe - wohl eine Anspielung auf die zweckoptimistischen Lageberichte der USA. Die Frage aber, ob die EU-Missionen vor Ort nicht über eigene, bessere Erkenntnisse verfügten, blieb bei der Online-Pressekonferenz nach dem Treffen unbeantwortet.

Zu den Konsequenzen für die EU gehöre, dass sie sich jetzt wegen der Zukunft der Region stärker mit Anrainer-Staaten wie Russland, Türkei, Indien, Pakistan und China beschäftigen müsse. "Wir werden alle unsere Hebel einsetzen", verspricht der EU-Diplomat, führt dies aber nicht aus.

Evakuierungen haben Priorität

Die Situation in Afghanistan sei schwer einzuschätzen, so Borrell, deshalb müsse die Evakuierung der Helfer zunächst Vorrang haben. Etwa 400 Menschen hätten für die EU-Missionen gearbeitet und es sei schon schwierig, sie alle sicher zum Flughafen zu bringen. Spanien habe sich dabei als Empfangsland angeboten, Italien will die Flüge organisieren und Frankreich für die militärische Sicherheit sorgen. Alle weiteren Evakuierungen von Tausenden Mitarbeitern der NATO-Kontingente, von NGOs, Medien und anderen westlichen Organisationen laufen in nationaler Zuständigkeit.

Deutschlands Außenminister Heiko Maas
Deutschlands Außenminister Heiko MaasBild: Christoph Soeder/dpa/picture alliance

Bundesaußenminister Heiko Maas gab dabei zu erkennen, dass es inzwischen schon Probleme gebe, afghanische Mitarbeiter auch nur zum Flughafen in Kabul zu bringen. Ausländische Staatsangehörige hätten dabei keine Schwierigkeiten, aber für Afghanen gebe es bislang keine Zusage der Taliban, dass sie an den Kontrollpunkten durchgelassen würden. Man arbeite daran auch mit anderen Staaten, so der Minister. Er wies Vorwürfe zurück, die deutsche Botschaft in Kabul habe zu spät gehandelt. Am Freitag noch habe sie die Lage vor Ort für sicher gehalten, so Maas.

Wie umgehen mit den Taliban?

Um die Evakuierungen sicherzustellen, müsse man mit den Taliban Kontakt aufnehmen, sagt EU-Chefdiplomat Borrell: "Die Taliban haben den Krieg gewonnen, also müssen wir mit ihnen reden." Dies sei nötig, um eine humanitäre Krise, aber auch, um eine Flüchtlingswelle zu verhindern. Diese Ängste werden von verschiedenen EU-Ländern geteilt. Der französische Präsident sagte am Montagabend in seiner Fernsehansprache offen: "Wir müssen uns vor irregulären Migrationsströmen schützen." Italien, Spanien, Zypern, Malta und Griechenland haben eine Sondersitzung der EU-Innenminister zu diesem Thema gefordert, die an diesem Mittwoch stattfinden wird.

Außenminister und Vertreter der Europäischen Union während der Videokonferenz im Gebäude des Europäischen Rates
Außenminister und Vertreter der Europäischen Union während der Videokonferenz im Gebäude des Europäischen RatesBild: Johanna GeronReuters/AP/dpa/picture alliance

Auch die Bundesregierung betont, Flüchtlinge aus Afghanistan sollten zunächst in den Nachbarländern untergebracht wurden und dazu müsse man etwa Iran oder Pakistan unterstützen. In beiden Ländern leben allerdings schon Millionen afghanische Flüchtlinge und es gibt kaum mehr Aufnahmebereitschaft.

Abgesehen davon will die EU eine Taliban-Regierung nur dann anerkennen, wenn sie die notwendigen Bedingungen erfülle, etwa die Menschenrechte und die Rechte der Frauen achte. Borrell will dabei einen klaren Unterschied zwischen geschäftsmäßigen und notwendigen Kontakten zu den neuen Machthabern und einer diplomatischen Anerkennung machen. Davon könne derzeit noch keine Rede sein.

Ansonsten sieht der EU-Vertreter finstere Monate für die Afghanen: Die Produktion von Lebensmitteln werde auch wegen der Klimaprobleme schwierig, Europa müsse sich darauf einrichten, vielleicht sogar mehr humanitäre Hilfe zu leisten als bisher. Ob er glaube, die Taliban hätten sich gewandelt, wie sie in ihrer Pressekonferenz am Dienstag in Kabul behaupteten, wird Borrell in Brüssel gefragt. "Sie sehen genauso aus wie früher und sprechen schlechtes Englisch", scherzt der Spanier, was man wohl als Nein auslegen kann.

Schuld ist die afghanische Regierung

Auch bei der NATO ist die Stimmung düster. Generalsekretär Jens Stoltenberg spricht von Fehlern und Lehren, die daraus zu ziehen seien. Aber die Hauptschuld an der gegenwärtigen "Tragödie" sieht er bei der ehemaligen afghanischen Führung: "Sie ist nicht gegen die Taliban aufgestanden und hat die friedlichen Lösungen geliefert, die die Afghanen so dringend wollten." Die NATO habe ja nie geplant, für immer im Land zu bleiben, sondern wollte nach dem Kampf gegen den Terror einen lebensfähigen Staat aufbauen.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg
NATO-Generalsekretär Jens StoltenbergBild: Kenzo Tribouillard/AFP

"Die Geschwindigkeit des Zusammenbruchs war eine Überraschung", betont auch Stoltenberg. Die Situation sei aber noch im Fluss und man könne nicht sagen, was für eine Regierung Afghanistan haben werde. Auf jeden Fall sollten die neuen Machthaber die Evakuierungen und die Ausreise all jener ermöglichen, die das Land verlassen wollten, fordert er.

"Die NATO ist nicht ohne Verantwortlichkeit, es sind Lektionen zu lernen", erklärt Stoltenberg. Als höchster politischer Repräsentant des Militärbündnisses kann der Norweger eines allerdings nicht tun: Offen die Politik des größten NATO-Mitglieds USA kritisieren. Hinter den Kulissen allerdings wurde seit Monaten gefragt, warum Washington sich nicht besser mit den anderen Partnern koordiniert und sie in die Entscheidungen einbezogen habe. Die dramatischen Folgen des einseitigen Abzugsbeschlusses müssen jetzt jedoch alle NATO-Mitglieder mittragen.

Schließlich kam vom NATO-Generalsekretär noch eine Terrorwarnung: Mit der Rückkehr der Taliban an die Macht werde der internationale Terrorismus wieder zu einer Bedrohung, der gegenüber das westliche Bündnis wach bleiben und die es weiter bekämpfen müsse.