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Euphoria im Bad

Marcus Bösch21. Februar 2013

Wie ein harmloser Ohrwurm über den Atlantik führt, mitten rein in das echte Leben. Oder - warum das Internet uns alle zu Verbündeten macht.

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Screenshot aus Video bei YouTube (Foto: YouTube)
Bild: Screenshot Youtube

Sie kennen das. Da steht man im Badezimmer, putzt sich gedankenverloren die Zähne und durch die verschlungenen Windungen des Gehirns wälzt sich ein mächtiger Akkord, eine reine Zeile Text durchdringt das Getöse, wiederholt sich fortan und immerzu. Ein Ohrwurm. Die umgangssprachliche Bezeichnung für ein eingängiges und merkfähiges Musikstück, das dem Hörer für einen längeren Zeitraum in Erinnerung bleibt und einen hohen akustischen Wiedererkennungs- und Reproduktionswert besitzt.

Ein leeres amerikanisches Wohnzimmer

Keine Ahnung, warum sich mein Unterbewusstsein gerade jetzt zu Wort meldete. Mir war diese Melodie vollkommen unbekannt, ich hatte eine Zahnbürste im Mund - es war noch früh - und trotzdem ging mir die zugegebenermaßen recht schlichte Textzeile “Me I am going up up up up“ wieder und wieder und wieder durch den Kopf. Natürlich nahm ich mein Telefon, das als treuer Gefährte auf dem Handtuchstapel neben mir auf mich wartete und gab genau diese Textzeile in die YouTube-Suchmaske ein. Und dann passierte es.

Ich landete bei Nutzerin PIZZAHUT 957, lernte die Tante von YouTube-Nutzerin “brOwneyed92x“ kennen und gewann meinen Glauben an die Menschheit zurück. Denn der erste und einzige Treffer meiner Suche führte mich nicht zu einem Hochglanz-Video eines Chart-Hits, sondern in ein leeres amerikanisches Wohnzimmer. Blauer Teppichboden, ein Fernseher auf einer Art Hifi-Möbel, links daneben eine Jukebox, ein Regal und eine Zimmerpflanze. Der Fernseher läuft. Zu sehen ist ein Standbild. Und zu hören ist: der Beginn des Liedes, das meinen Ohrwurm beinhaltet. Vor Freude klatschte ich in die Hände. Mit der Zahnbürste in der Hand. Und dann näherte sich bei Sekunde 18 eine mittelalte blonde Frau.

Ich finde das super

Auftritt von links. Mit forschem Schritt betritt sie die Bühne, ich meine das Wohnzimmer. Schlicht gekleidet. Flache Schuhe und eine weiße Dreiviertelhose, sie hält kurz inne, hebt nun die Arme und dann tanzt sie. Und das macht sie so unbefangen und amateurhaft gut, dass mein Mund sperrangelweit offen stehen bleibt und warmer Zahnpastaschaum langsam aus meinem Gesicht tropft. Um hier eins klar zu stellen. Ich bin weit davon entfernt mich über diese Dame aus Amerika lustig zu machen. Warum auch. Ich finde sie super.

Ihre Nichte auch. Sie hat das Video kommentiert. Ich habe die coolste Tante von allen. Ohne es beabsichtigt zu haben, bin ich offenbar gerade in einen kleinen familiären Zirkel eingetreten. Das Video hat erst rund 50 Aufrufe. Familie und Freunde nehme ich an. Und vielleicht ein paar Menschen in anderen Teilen der Erde. Menschen mit dem gleichen Ohrwurm, denen nicht sofort klar war, dass es sich bei dem Lied um “Euphoria“ von Loreen handelt. Den Siegertitel des Eurovision Song Contest 2012 in Baku, wie ich jetzt feststelle, weil mir an der Seite des Videos weitere und ähnliche Videos angeboten werden.

Screenshot aus Video bei YouTube (Foto: YouTube)
Bild: Screenshot Youtube

Leichter Schwindel

Ich lehne dankend ab, verzichte auf das Originalvideo von Loreen und bleibe noch ein bisschen hier im Wohnzimmer. Denn das Zugucken bei dieser selbstgemachten Choreographie in einer Wohnung, in der ich eigentlich nichts zu suchen habe, berührt mich auf eine komische Art und ich muss an Filme von Ulrich Seidel denken und an eine Szene aus einem Wong Kar-Wei-Film, in der ein dicklicher Junge in Socken allein in seinem Kinderzimmer mit einem Walkman-Kopfhörer tanzt und die Kinobesucher nicht die Musik, sondern nur das Quietschen seiner Synthetik-Socken auf dem Synthetik-Teppichboden hören.

“We are here, we're all alone in our own Universe“, singt Loreen und die Tante tanzt und ich steh im Badezimmer. Und der Gedanke, wie viele Menschen an wie vielen Orten jetzt gerade auch vor sich hin tanzen, sich die Zähne putzen oder einem Gedanken nachhängen, verursacht mir ein leichtes Schwindelgefühl. Jede Minute werden derzeit mehr als drei ganze Tage Videomaterial bei YouTube hochgeladen. Eigentlich super.

Marcus Bösch war irgendwann 1996 zum ersten Mal im Internet. Der Computerraum im Rechenzentrum der Universität zu Köln war stickig und fensterlos. Das Internet dagegen war grenzenlos und angenehm kühl. Das hat ihm gut gefallen.

Bild von Marcus Bösch für die DW, September 2012
DW-Netzkolumnist Marcus BöschBild: DW/M.Bösch

Und deswegen ist er einfach da geblieben. Erst mit einem rumpelnden PC, dann mit einem zentnerschweren Laptop und schließlich mit geschmeidigen Gerätschaften aus aalglattem Alu. Drei Jahre lang hat er für die Deutsche Welle wöchentlich im Radio die Blogschau moderiert. Seine Netzkolumne gibt es hier jede Woche neu.