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PolitikEuropa

Europas Wurzeln sind auch islamisch: Muslime auf dem Balkan

27. August 2024

Der Islam gehört zur Geschichte des europäischen Kontinents. In Andalusien blühte er, über das Osmanische Reich verbreitete er sich später auf dem Balkan. Den europäischen Islam prägen Gelehrsamkeit und Toleranz.

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Im Vordergrund die Hajji-Alija-Moschee in Pocitelj in Bosnien und Herzegowina mit einer Kuppel und einem hohen Minarett. Im Hintergrund ist auf einem Hügel die Ruine der mittelalterlichen Zitadelle zu sehen
Die Hajji-Alija-Moschee in Pocitelj in Bosnien und Herzegowina stammt aus dem 14. JahrhundertBild: GTW/imageBROKER/picture alliance

Der Islam ist in Europa seit mehr als einem Jahrtausend präsent. Im Mittelalter stand das spanische Andalusien lange Zeit unter islamischem Einfluss. Vor allem aber haben Religion und Kultur des Islam die Länder Südosteuropas wesentlich geprägt. Diese islamische Identität gehört in ähnlicher Weise zu Europa, wie eine christliche und eine jüdische Prägung auch zu den Gesellschaften des Nahen Ostens und Nordafrikas gehört.

Das zeigt sich in besonderer Weise auf dem Balkan. Der Islam kam mit der Ausdehnung des Osmanischen Reiches nach 1453 in Südosteuropa an und ist bis heute in unterschiedlichem Maße ein prägendes Element in Bosnien und Herzegowina, Albanien, Nordmazedonien, Montenegro, im serbischen Sandschak, in Kosovo, in der Dobrudscha in Rumänien sowie in Bulgarien. In Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Albanien stellen Muslime eine Mehrheit der Bevölkerung, in Nordmazedonien machen muslimische Albaner rund ein Drittel der Bevölkerung aus. Auch viele Roma in Südosteuropa sind muslimischen Glaubens.

Die Alhambra in Granada, eine große Burg im maurischen Stil auf einem Hügel über der Stadt
Die Alhambra im spanischen Granada zeugt von der islamischen Vergangenheit AndalusiensBild: Reinhard Kaufhold/picture alliance/dpa

Die Verbreitung des Islam auf dem Balkan war ein komplexer historischer Vorgang. Es habe sich dabei nicht um ein schnelles, gewaltsames Vordringen gehandelt, sondern im Wesentlichen um einen allmählichen Prozess, der sich über 100 bis 150 Jahre hinzog, sagt Mehmet Hacisalihoglu, Professor für Turkologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. In der Forschung sei diese Sichtweise mittlerweile Konsens. Anreize zur Konversion waren eher wirtschaftlicher Natur.

Den Osmanen ging es nicht vorrangig um religiöse Ausbreitung, sondern darum, in den eroberten Ländern Südosteuropas Ressourcen in Form von Steuern, Abgaben und Diensten abzuschöpfen, wie Gudrun Krämer, emeritierte Professorin für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin, in ihrem Standardwerk "Geschichte des Islam" erläutert. Die neuen Herrscher hatten es vor allem auf Land und reiche Vorkommen an Gold und Silber für ihre Münzprägung abgesehen. Konflikte drehten sich dann auch weniger um Fragen der Religion als um den Kampf der eroberten Völker um Eigenständigkeit und die Bewahrung ihrer kulturellen Identität.

Kontrovers diskutiert: die Ausbreitung des Islam

Allerdings gibt es bis heute Kontroversen um die Ausbreitung des Islam auf dem Balkan. Wie diese historische Epoche gesehen und beurteilt wird, ist keine bloße Frage für Wissenschaftler. Sie ist zentral für das Zusammenleben der religiösen und ethnischen Gruppen auf dem Balkan heute. Nationalistische Kreise in der Region sehen die Verbreitung der muslimischen Religion als Teil einer politischen Herrschaftsstrategie.

Männer knien auf Gebetsteppichen und berühren mit dem Kopf den Boden beim Gebet  in der Gazi-Husrev-Beg-Moschee in Sarajevo zum Ende des Fastenmonats Ramadan im April 2024
Gebet in der Gazi-Husrev-Beg-Moschee in Sarajevo zum Ende des Fastenmonats Ramadan im April 2024 Bild: Armin Durgut/AP Photo/picture alliance

Der Turkologe Hacisalihoglu sieht jedoch positive Entwicklungen hin zu einem realistischeren Bild des Osmanischen Reichs und der Ausbreitung des Islam. Er hat diese Frage anhand von Lehrmaterialien an Schulen in Nordmazedonien untersucht und kommt zu dem Schluss: "Schulbücher in Nordmazedonien und auch in Serbien stellen diesen Prozess der Islamisierung heute getreuer dar [als früher]." Beispiel Nordmazedonien: Nach der Unabhängigkeit des Landes 1991, damals noch unter dem Namen Republik Mazedonien, habe der Staat 2001 in einer Vereinbarung über die Rechte von Minderheiten zugesagt, die Geschichte des Landes und der islamischen Minderheit angemessen darzustellen und auf nationalistische Übertreibungen zu verzichten.

Religiöse Vielfalt

Die osmanischen Zeit auf dem Balkan war von religiöser Vielfalt geprägt: Katholische und orthodoxe Christen, meist sunnitische Muslime und Juden lebten in den Städten auf engem Raum zusammen. Das sogenannte Millet-System ermöglichte ein "selbstständiges und autonomes Leben" für alle Religionen, betont der Turkologe Hacisalihoglu. Die Wohnviertel waren zwar in der Regel getrennt, man traf sich jedoch auf dem Marktplatz. Zwischen Kirche, Synagoge und Moschee lagen oftmals nur hundert Meter Abstand, so wie man es bis heute etwa in bulgarischen Hauptstadt Sofia noch sehen kann. "Die als Monotheisten anerkannten Nichtmuslime genossen weiterhin einen hohen Grad an Autonomie innerhalb einer hierarchischen, von den sunnitischen Muslimen beherrschten Ordnung", schreibt Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer.

Eine Frau mit grauen Haaren (Gudrun Krämer) spricht in ein Mikrofon
Die Berliner Islamwissenschaftlerin Gudrun KrämerBild: allefarben-foto/IMAGO

Nach 1870 versuchte Russland, Gebiete auf dem Balkan zu erobern. Aus welchen Motiven dies geschah, ist unter Historikern umstritten. Der britische Historiker William Holt beschreibt diesen Prozess als einen Versuch der "Reconquista auf dem Balkan". Andere betonen politische und wirtschaftliche Motive für das russische Vorgehen. Dass das Vorhaben nicht gelang, liegt vor allem an der Politik Österreich-Ungarns. 1878 besetzte Österreich Bosnien und erkannte dort die Muslime offiziell als Gemeinschaft an. Die Habsburger gründeten in Bosnien die Islamische Gemeinschaft als eine Organisation der Muslime nach dem Vorbild der christlichen Kirchen in ihrem Staat und führten das Amt eines Reisu-l-ulema ein. Dieser Obermufti ist bis heute der oberste Vertreter der bosnischen Muslime. 

Bosnien: Islam in einem säkularen Staat

Seitdem konnte sich in Bosnien ein Islam mit einer inzwischen langen Erfahrung des Zusammenlebens mit anderen Religionen und Ethnien in einem säkularen Staat etablieren. Zu den Besonderheiten bosnisch-islamischen Lebens gehören liberale Auffassungen beim Thema Alkoholverbot und Fastenpraxis sowie eine große Offenheit für andere Religionen und Lebensmodelle. 

Drei Schaufensterpuppen mit Kopftüchern stehen in dem Schaufenster eines Ladens für islamische Mode in Sanski Most in Bosnien
Ein Laden für islamische Mode in Sanski Most in BosnienBild: Wolfgang Cezanne/Zoonar/picture alliance

Die Praxis der Mehrehe, wie sie in arabischen Länder teilweise vorkommt, hat in Bosnien so gut wie gar nicht Fuß gefasst. Islamistische und wahhabitische Strömungen waren auf dem gesamten Balkan lange, anders als etwa auf der Arabischen Halbinsel oder in Ägypten, gänzlich unbekannt. Das hat sich erst mit dem Bosnienkrieg von 1992 bis 1995 geändert, in dem Muslime, die sich selbst Bosniaken nennen, durch serbische und kroatische Nationalisten vertrieben und umgebracht wurden - bis hin zum Genozid von Srebrenica.

Der Zerfall Jugoslawiens und der Bosnienkrieg führten dazu, dass die Linien zwischen Ethnien und Religionen heute schärfer gezogen werden. Verfassungsrechtlich sind Staat und Religion in allen Ländern des Balkans getrennt. Doch Religion hat sich während des Krieges und danach zu einem politischen Faktor entwickelt, auch zu einem stärkeren Faktor von Identitätsbildung.

Die mit Ornamenten verzierte Gebetsnische in der Et'hem Bej Moschee in Tirana, Albanien. Neben der Gebetsnische führt eine schmale hölzerne Treppe zur Kanzel für den Prediger. Zwischen Gebetsnische und Kanzel steht eine Wanduhr
Die Gebetsnische in der Et'hem Bej Moschee in Tirana, AlbanienBild: Sergio Delle Vedove/Zoonar/picture alliance

Dennoch bleibt der Islam auf dem Balkan mit seinen liberalen Einstellungen und seinem dicht gewebten sozialen Netz wesentlich besser gegen gewalttätige, radikale Tendenzen gewappnet als der im Nahen Osten oder in den Metropolen Westeuropas. 

Europas Wurzeln sind auch islamisch

In Südosteuropa leben seit Jahrhunderten Muslime, Christen und Juden zusammen. Dennoch tut sich Europa bis heute schwer, die Muslime des Balkans als Teil des Kontinents zu begreifen. Sie würden nicht als Europäer gesehen, sondern als "Andere" verstanden, meint der britisch-bangladeschische Autor Tharik Hussain. Das liegt nach seiner Meinung daran, dass die meisten Muslime auf dem Balkan unter osmanischer Herrschaft lebten.

"Die Osmanen wurden als Feinde des christlich-westlichen Europa gesehen, aus dem die moderne europäische Identität entstanden ist", erklärt Hussain, der in seinem Buch "Das Minarett in den Bergen - Porträt eines unvermuteten Europas" seine Reise zu den Muslimen des Balkans beschreibt. "Zu dieser Identität gehört auch eine anti-muslimische Haltung, sie ist Teil der DNA Europas." Danach könne man per definitionem nicht Muslim und Europäer sein. Doch die Geschichte des Islam auf dem Balkan lehrt, dass Europas Wurzeln christlich, jüdisch und islamisch sind.