Europawahlen im Visier von Desinformationskampagnen
28. Januar 2024Weltweit stehen in diesem Jahr in vielen Ländern Wahlen an, darunter auch die Wahlen für das Europäische Parlament im Juni. Vertreter der EU, die die Aufgabe haben, Desinformationen aufzuspüren, befinden sich im Alarmzustand.
Der diplomatische Dienst der EU, der European Union External Action Service (EEAS), hat eigens eine Taskforce zur Bekämpfung von Desinformation eingerichtet. Sie hat einen Bericht veröffentlicht, in dem sie 750 Fälle gezielter Desinformation durch ausländische Akteure beschreibt. Die meisten der untersuchten Falschinformationen stammten aus Russland, das "versucht, seinen Angriffskrieg auf die Ukraine zu rechtfertigen", wie die Autoren der Studie schreiben.
Die Mehrzahl der Falschinformationen richtete sich gegen die Ukraine, gefolgt von den Vereinigten Staaten, Deutschland und Polen. Fast 150 Institutionen, einschließlich der EU, NATO und Medienunternehmen wie die Deutsche Welle, Reuters und Euronews waren betroffen.
In seinem zweiten Jahresbericht zu Desinformationen spricht der EEAS über andauernde "vorsätzliche, strategische und koordinierte Versuche, Fakten zu manipulieren, Verwirrung zu stiften, zu spalten sowie Angst und Hass zu verbreiten". Eine nennenswerte Entwicklung im vergangenen Jahr war der Versuch, geschlechterspezifische oder gegen die LGBTQ-Gemeinschaft gerichtete Desinformationen zu verbreiten.
Ein langsam wirkendes Gift
Josep Borrell ist einer der ranghöchsten Politiker der Europäischen Union und selbst häufig Ziel von Desinformationskampagnen. Bei der Vorstellung des Berichts bezeichnete er das Problem als eine der größten Sicherheitsbedrohungen unserer Zeit. "Es handelt sich nicht um eine Bombe, die dich töten kann, sondern um ein Gift, das dein Denken angreift", warnte er.
Zur Verdeutlichung zitierte er ein Beispiel aus Frankreich. Nach den Angriffen vom 7. Oktober durch die militant-islamistische Hamas, die von Deutschland, der EU, den USA und weiteren Staaten als Terrororganisation eingestuft wird, hatte Israel eine militärische Offensive im Gazastreifen begonnen. Drei Wochen später wurde über Nacht der blaue Davidstern auf etwa 250 Gebäude in Paris gesprüht. "Das rief Erinnerungen an die schlimmsten Tage des Holocaust wach", erklärte Borrell. Die Bilder verbreiteten sich schnell über die sozialen Medien und einige Kommentatoren gaben sofort der muslimischen Gemeinschaft die Schuld. Doch schon eine Woche später identifizierten die französischen Behörden eine mögliche russische Destabilisierungskampagne, so Borrell.
Im November machte das französische Außenministerium das russische Netzwerk Recent Reliable News (RRN) oder Doppelgänger für die Verbreitung von Bildern der Davidsterne verantwortlich. Sieben Russen mit Verbindungen zu RRN wurden im Juli auf die Sanktionsliste der EU gesetzt. Die französischen Behörden ermitteln weiter und versuchen herauszufinden, ob die Aktion von Hintermännern aus dem Ausland unterstützt wurde.
Im Jahr 2015 rief der EEAS das Projekt EUvsDisinfo ins Leben. Beobachter des Projekts bezeichnen Doppelgänger als eine "vielschichtige Online-Informationsoperation, die von Russland ausgeht und mehrere Länder weltweit ins Visier nimmt". Oft geben sich die Täter dabei als Medienunternehmen oder als westliche Behörden, zum Beispiel das französische Außenministerium, aus.
Wichtiges Ziel: die Wahlen
Falschinformationen hat es schon immer gegeben, räumt Borrell ein. "Doch jetzt sind wir für diese Bedrohung viel anfälliger, denn Informationen verbreiten sich mit Lichtgeschwindigkeit."
50 Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung sind in diesem Jahr aufgerufen, an einer der 60 weltweit stattfindenden Wahlen teilzunehmen. Viele davon werden damit zur Zielscheibe für "bösartige ausländische Akteure", befürchtet Borrell.
Im vergangenen Jahr war dies zum Beispiel in Spanien zu beobachten. "Zwei Tage vor den Wahlen fälschten russische Agenten wieder einmal die offizielle Website der Regionalregierung von Madrid", erläuterte Borrell. Sie warnten davor, dass die (bereits aufgelöste) baskische Terrororganisation ETA zurück sei und Angriffe auf die Wahllokale plane.
Nicht nur ausländische Quellen verbreiten Falschinformationen
Das European Digital Media Observatory wird ebenfalls von der EU finanziert. Im vergangenen November mussten Faktenprüfer dieser Beobachtungsstelle feststellen, dass in allen 10 beobachteten europäischen Ländern Desinformationen zu den Wahlverfahren verbreitet wurden. Die meisten dieser Länder gehören zur Europäischen Union.
"Die Falschinformationen zielten häufig darauf ab, Wahlen zu delegitimieren, indem unbewiesene Behauptungen zu Wahlbetrug, ausländischer Einflussnahme und unfairen Praktiken verbreitet werden", heißt es in ihrem Bericht.
Die Vorwürfe von Borrell und EEAS richten sich gegen Russland, doch auch inländische Quellen verbreiten häufig Falschinformationen. "Wir beobachten viel Desinformation durch Akteure innerhalb der EU", sagt Tommaso Canetta von Pagella Politica, einer politischen Organisation, die sich der Faktenprüfung widmet. "Besonders schädlich und gefährlich sind Desinformationen, wenn sie von Politikern und traditionellen Medien weiterverbreitet werden."
Im Gespräch mit der DW verweist Canetta auf die Corona-Pandemie. In Portugal und Irland, den beiden Ländern mit der höchsten Impfquote, standen Medien und Politiker vereint hinter wissenschaftlichen Erkenntnissen. In den beiden Ländern mit der niedrigsten Impfquote, Bulgarien und Rumänien, waren die verschiedenen Lager stark polarisiert, mit entsprechenden Auswirkungen auf die öffentliche Debatte.
Die Zahl der Falschinformationen zur Ukraine ist besonders groß, doch den Faktenprüfern fallen auch viele Inhalte zum Klimawandel, zur Migration und zu Flüchtlingen auf. In Italien zum Beispiel werden viele Falschbehauptungen über elektrische Autos verbreitet. Sie sollen zum Beispiel schneller in Brand geraten als Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren oder im Winter schneller stecken bleiben. Falschinformationen über Flüchtlinge und die Wohnungsnot heizten wiederum die jüngsten Unruhen in Dublin an, erzählt Canetta.
Wohin soll das alles führen?
Borrell spricht von einer "Schlacht der Narrative", die gewonnen werden müsse. Russische Desinformation bezeichnet er als ein "vollständig entwickeltes Instrument des Krieges".
Doch im Bericht des EEAS wird auch davor gewarnt, die potenziellen Risiken nicht zu hochzuspielen. Das schnelle Aufspüren und ein proaktives Vorgehen gegen Desinformationen spielen bei der Bekämpfung ebenso eine Rolle wie eine größere Medienkompetenz der Bevölkerung.
Für viele EU-Bürger sind die anstehenden Wahlen für das EU-Parlament weniger wichtig als nationale Wahlen, meint Canetta. Das Risiko sei daher nicht so sehr, dass sich die Vorgänge in den Vereinigten Staaten oder in Brasilien hier wiederholen könnten. Dort war es zu Gewaltausbrüchen gekommen, nachdem die Amtsinhaber Donald Trump bzw. Jair Bolsonaro die Wahl verloren hatten.
"Ich mache mir größere Sorgen darum, dass Vorhaben wie der Green Deal der EU oder der Pandemieplan angegriffen werden könnten", erklärt Canetta. "Das größere Risiko besteht darin, dass extremistische Kräfte den Konsens und damit die Haltung der EU in bestimmten Fragen verschieben könnte."
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.