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Politik

Karzai: "Afghanistan ist unser Land!"

15. August 2022

Viele frühere Führungspersönlichkeiten haben Afghanistan unter den Taliban den Rücken gekehrt. Ex-Präsident Hamid Karzai ist geblieben. "Man verlässt seine Heimat nicht, wenn es schwierig wird", sagt er im DW-Interview.

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Afghanistan, Kabul | Harmid Karzai im Gespräch mit DW-Reporterin Sandra Petersmann (11.08.2022)
Harmid Karzai im Gespräch mit DW-Reporterin Sandra Petersmann in KabulBild: Ahmad Sear Yousfzai

Karzai: Einheit der Afghanen stärken

DW: Herr Karzai, Sie dürfen anscheinend nicht ins Ausland reisen. Sind Sie ein Gefangener der Taliban?

Hamid Karzai: Nein. Reisen ins Ausland sind nicht möglich. Das haben sie mir auch gesagt. Aber innerhalb der Stadt Kabul - wenn die Sicherheitslage gut ist - lassen wir sie wissen, dass ich an einen bestimmten Ort gehen will. Und sie stellen eine Eskorte zur Verfügung, die mich dorthin bringt.

Ist das auf Kabul beschränkt oder dürfen Sie auch die Stadtgrenze überschreiten?

Das habe ich noch nicht getan. Ich weiß es also nicht. Ich habe ihnen noch nicht gesagt, dass ich wohl schon im Herbst in die Provinzen fahren will. Und dann werden wir es wissen.

Warum haben Sie das Land nicht verlassen, als die Taliban vergangenes Jahr an die Macht kamen - so wie viele andere wichtige Vertreter der Islamischen Republik?

Dies ist unser Land! Es ist unser Zuhause. Man verlässt seine Heimat nicht, wenn es schwierig wird. Man bleibt in seinem Haus und bringt es in Ordnung. Und man versucht, es in Ordnung zu bringen. So einfach ist das.

Also, wenn Sie jetzt die Möglichkeit hätten, würden Sie nicht das Land verlassen?

Nein, niemals!

Sie haben drei kleine Töchter. Was für eine Zukunft sehen Sie für sie in Afghanistan?

Ich möchte, dass sie eine genauso gute Zukunft haben wie jedes andere Kind auf der Welt. Und das ist eine sehr wichtige Frage für unsere Zukunft und für unsere Kinder. Meine Töchter gehen hier in Kabul zur Schule. Die Ältere, Malala, ist jetzt zehn Jahre alt und mit der sechsten Klasse fertig. So wie die Dinge jetzt stehen, bedeutet das, dass sie ihre Schulausbildung nicht fortsetzen kann.

Was werden Sie dann tun? Werden Sie sie ins Ausland schicken, wenn sie nicht weiter lernen kann, weil die Taliban ein Schulverbot verhängen?

Genau das ist die Frage, die sich mir und Hunderttausenden anderen afghanischen Familien und Eltern stellt. Was tun wir, wenn unsere Töchter das Alter erreichen, in dem sie die Mittel- oder Oberschule besuchen können? Das Land zu verlassen bedeutet, das Land im Stich zu lassen. Wir müssen also alles in unserer Macht Stehende tun, um für das Recht unserer Kinder oder unserer Töchter auf Bildung zu kämpfen. Das werden wir nicht aufgeben.

Aber wenn es einen so großen Bedarf an Bildung gibt, warum sagen die Taliban dann nicht einfach: "Lasst es uns tun"?

Das ist eine Frage, die die Taliban beantworten müssen, und zwar sehr bald. Sie müssen den Mädchen den Schulbesuch ermöglichen. Da gibt es keinen Kompromiss. Und das habe ich denen sehr deutlich gesagt. Wir werden auf keinen Fall zulassen, dass afghanischen Mädchen die Bildung verweigert wird.

Hamid Karzai im DW-Interview
Ex-Präsident Karzai: "Alle Afghanen müssen sich zusammensetzen"Bild: DW

Um dies zu ändern, müssen wir uns als Afghanen zusammensetzen - wir alle, die Taliban und der Rest des Landes. Ganz gleich, ob es sich um eine Entscheidung innerhalb der Taliban handelt oder um eine, die von außen aufgezwungen wird: Wir müssen das ändern.

Was meinen Sie mit "von außen aufgezwungen"?

Sie haben gehört, wie der ehemalige pakistanische Premierminister Imran Khan vor den Außenministern der islamischen Welt in Islamabad versucht hat, zu rechtfertigen, dass afghanische Mädchen nicht zur Schule gehen, und dies auf die Traditionen zu schieben, was falsch ist, völlig falsch.

Aber warum sollte Pakistan ein Interesse an einem Verbot von Mädchenschulen in Afghanistan haben?

Ein schwaches Afghanistan. Ein Afghanistan, das in Not ist. Ein Afghanistan, das nicht auf eigenen Füßen stehen kann. Ein Afghanistan, das in Armut lebt. Fehlende Bildung bedeutet Armut. Fehlende Bildung für Mädchen bedeutet Mangel an Fähigkeiten. Fehlende Bildung für Mädchen bedeutet, dass die Hälfte der Gesellschaft nicht gebildet ist. Daher ist mindestens die Hälfte der Gesellschaft nicht in der Lage, zu produzieren und sich zu beteiligen. Das ist ein erheblich geschwächtes und benachteiligtes Afghanistan. Es kann also keinen anderen Grund für Pakistan geben, dies zu tun.

Nach Angaben von Präsident Joe Biden haben die USA Ende Juli den Führer der Terrororganisation Al-Kaida, Aiman al-Sawahiri, bei einem Drohnenangriff auf einen Balkon im Herzen von Kabul getötet. Das angegriffene Haus befindet sich in einem Gebiet, in dem viele Repräsentanten der Taliban leben. Wird Afghanistan wieder zu einem Unterstützer des weltweiten Terrors?

Afghanistan war nie ein Unterstützer des weltweiten Terrors. Afghanistan war ein Opfer des globalen Terrors. Das afghanische Volk empfindet tiefes Mitgefühl mit den Opfern der Tragödie vom 11. September, weil wir zunächst Opfer waren. Die Afghanen sind Opfer des Terrorismus und leider auch Opfer des Kampfes gegen den Terrorismus. Was den Vorfall mit al-Sawahiri angeht, so gaben die Amerikaner bekannt, dass sie ihn getötet haben. Die Taliban erklärten, dass sie nichts von seiner Anwesenheit oder seinem Aufenthalt in Kabul wussten und dass sie den Vorfall untersuchen würden. 

Wenn Sie die Augen schließen und sich zurückversetzen in das vergangene Jahr, in jene sehr entscheidende Schlussphase, in der die internationalen Truppen eiligst zusammenpackten, die schnelle Offensive der Taliban, die mit dem Einmarsch in Kabul endete. Der damalige Präsident Ashraf Ghani auf der Flucht, afghanische Truppen, nicht kämpfend, junge Afghanen, die sich an Flugzeuge klammern und dann vom Himmel fallen. Wer ist an all dem schuld?

Das ist sehr, sehr traurig. Die Art und Weise, wie sich die Vereinigten Staaten aus Afghanistan zurückzogen haben, war eine Schande - eine Beleidigung für uns und auch verletzend für das amerikanische Volk.

Wenn Sie die Flagge der Taliban am Präsidentenpalast sehen, der nicht allzu weit von Ihrer Residenz entfernt ist, blutet Ihnen das Herz?

Nein. Es ist die Taliban-Flagge. Sie sind jetzt die Regierung in Afghanistan. Unsere Nationalflagge ist schwarz-rot-grün. Das ist die historische Flagge Afghanistans, die es mindestens seit den 1920er Jahren gibt.

Wenn wir uns jetzt die Situation ansehen, ist die Wirtschaft praktisch zusammengebrochen. Fast die Hälfte der Bevölkerung, das sind 20 Millionen Menschen, leidet unter einem hohen Maß an Ernährungsunsicherheit. Selbst in den Krankenhäusern hier in Kabul, wo immer noch Hilfe ankommt, gibt es Kinder, die ums Überleben kämpfen. Wo ist der Ausweg?

Der Ausweg besteht darin, die Einheit unter den Afghanen zu stärken und das gesamte afghanische Volk in die Führung des Landes einzubeziehen. Ich fordere die Taliban als Brüder auf, alle anderen afghanischen Brüder und Schwestern zu betrachten - selbst diejenigen, die gegen sie sind, die möglicherweise daran denken, sich ihnen zu widersetzen. Die Taliban müssen zu einer politischen Vorgehensweise zurückkehren, zu einem nationalen Dialog. Dies ist ein Aufruf an die Taliban, den ich wiederholt gemacht habe.

Ist Afghanistan ein verlorenes Land?

Nein, es ist kein verlorenes Land. Wir gehören zu den ältesten Ländern und Zivilisationen in diesem Teil der Welt. Uns wird es gut gehen. Dies ist nur ein kurzer Augenblick in unserer jahrtausendealten Geschichte. Diese Phase wird vergehen. Wir werden wieder auf die Beine kommen und stark sein.

Ist Afghanistan ein verlorenes Land für Frauen?

Nein, auch das ist nur vorübergehend. Wenn Afghanistan ein für die Frauen verlorenes Land wäre, dann bedeutet das auch, dass Afghanistan sich selbst verloren hätte. Das werden wir niemals zulassen. Die afghanischen Frauen werden sich weiterbilden. Sie werden zur Schule gehen. Sie werden Ingenieurinnen, Ärztinnen und Journalistinnen sein und im Parlament sitzen und gute Arbeit leisten. Die Zeit wird kommen, Sie werden es sehen!

Das Interview wurde von Arnd Riekmann aus dem Englischen adaptiert.