Exodus aus Bosnien - ein Land blutet aus
12. Dezember 2022Die Koffer sind gepackt, das Ticket ist gebucht. Von Sarajevo, Tuzla oder Banja Luka wird es gen Norden gehen: nach Ljubljana, München, Wien oder Malmö. One-way - eine Rückkehr ist erst einmal nicht geplant.
Seit Jahren wandern vor allem junge Menschen aus Bosnien und Herzegowina und anderen Balkanstaaten ab. Doch was lange als Brain Drain bezeichnet wurde, hat sich längst zu einem Massenexodus ausgeweitet. Selbst jene, die gute Jobs in der Heimat haben, etwa bei internationalen Organisationen, kennen nur noch eine Richtung: auf und davon.
Eine, die genau diesen Schritt gegangen ist, ist Hana Curak. Seit ein paar Jahren wohnt die 28-Jährige fernab der bosnischen Heimat, heute arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität in Berlin. Zuhause in Bosnien vermisse sie das Verständnis für progressive Personen oder Aktionen, sagt sie. Die Macht-Strukturen seien zu festgefahren.
Die Zahlen sind alarmierend: Zählte Bosnien und Herzegowina 1991 noch 4,3 Millionen Einwohner, sind es derzeit nurmehr rund drei Millionen. Tausendfach ziehen Krankenschwestern, Physiotherapeuten und Handwerker weg. Und der Schwund wird UN-Prognosen zufolge weiter gehen: Bis 2050 werden weitere 500.000 Bosnier und Bosnierinnen ihre Heimat verlassen.
Armut, schlechte Gesundheitsversorgung, Korruption und Rechtsunsicherheit
Schon im Krieg (1992-95) flohen Hunderttausende vor den Gräueltaten aus dem Land. Die aktuelle Abwanderungswelle hat hingegen vielschichtige Gründe: die desolate Wirtschaftslage, die schlechte Gesundheitsversorgung, Korruption und Rechtsunsicherheit. Nicht zuletzt gelten auch die toxischen Politikansätze der Nationalisten als maßgebliche Push-Faktoren, die die Menschen aus dem Land treiben.
Die radikalen Parteien der Bosniaken (SDA), der Kroaten (HDZ) und Serben (SNSD) haben das Land unter sich aufgeteilt und kontrollieren die Vergabe lukrativer Jobs. Menschen ohne das richtige Parteibuch haben beim Personalpoker oft keine Chance. Kritiker bemängeln, dass die Politiker nicht für die Bürger und Bürgerinnen arbeiten - sondern an erster Stelle sich und ihre Familien bereichern.
Menschen an den Rand gedrängt
Mit dem Daytoner Friedensabkommen von 1995 wurde zwar der dreijährige Krieg beendet, die Dominanz der Nationalisten jedoch wurde damals im Status Quo zementiert. Die Kategorie der Bürger (also Menschen, die sich keiner der definierten ethnischen Gruppen zuordnen) wurde abgeschafft - und damit eine demokratische Normalisierung des Landes auf Dauer blockiert.
"Es sind vor allem Menschen mit bürgerlichen, demokratischen Überzeugungen, die scharenweise das Land verlassen", konstatiert die Politologin Tanja Topic, die für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Banja Luka arbeitet.
Für sie gäbe es keine Nische, sie würden von hetzerischem Nationalismus und kriminellen Strukturen an den Rand gedrängt. Auch im Bildungssystem werden die Menschen in ethnische Kategorien gepresst. "Ich liebe mein Land", seufzt eine Mutter, die mit ihrer jüngsten Tochter die Ausreise plant. Doch das Chaos der Politiker, der Hass, den sie verbreiteten - das wolle sie weder für sich, noch für ihre Kinder.
Zementierung des Status Quo
Immer wieder appellieren Vertreter der internationalen Gemeinschaft an die bosnischen Politiker, die Menschen im Land zu halten. Dabei sind es zunehmend westliche Unterhändler, die mit fragwürdigen Politik-Ansätzen eben jene Realitäten schaffen, die die Menschen aus dem Land treiben.
Bei den zurückliegenden Wahlen am 2. Oktober 2022 änderte etwa der von den Vereinten Nationen eingesetzte Hohe Repräsentant, der Deutsche Christian Schmidt, rückwirkend das Wahlsystem. Ein "undemokratischer" Akt, so die harsche Kritik von EU-Parlamentariern, die Stimmen der Wählerinnen und Wähler seien zugunsten der radikal-nationalistischen Kroatenpartei HDZ marginalisiert worden. Zudem, so die Politologin Topic, sei im serbisch dominierten Landesteil, der Republika Srpska, massiver Wahlbetrug "von den Internationalen legitimiert" worden.
Massiver Vertrauensverlust
Ganz offensichtlich sind Washington, Brüssel und Berlin bemüht, den fragilen Status Quo aufrechtzuerhalten. Auf diese Weise stabilisieren sie jedoch korrupte und illiberale Machthaber. Derartige Manöver aber führen schon jetzt zu einem massiven Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber dem Westen. Die Menschen fühlen sich im Stich gelassen - und suchen ihr Glück anderswo.
Beispielhaft für das Versagen der internationalen Gemeinschaft war der Mord an dem Studenten David Dragicevic, der 2018 monatelange Proteste auslöste. Vehement forderten Aktivisten unter dem Slogan "Recht für David" in Banja Luka, der Hauptstadt der Republika Srpska, die Aufklärung des Verbrechens. Die Eltern vermuten, dass ihr Sohn Opfer eines Drogenkartells wurde, das Verbindungen bis in höchste Politikkreise hat.
Doch die EU-Delegation habe mit Rücksicht auf Serbenführer Milorad Dodik vermieden, die Forderung nach Aufklärung zu unterstützen, berichtet eine ehemalige Mitarbeiterin des Politikers. Machtzirkel, die mutmaßlich in den Mord verwickelt waren, drangsalierten die Demonstranten so lange, bis der Protest verebbte. Aufgeklärt ist die Tat bis heute nicht.
EU - Verteidigung europäischer Werte?
Seit Jahren warten zudem Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Diskriminierung von Juden, Roma und anderen Bürgern auf ihre Implementierung. Statt allgemeine Bürgerrechte umzusetzen, habe der Hohe Repräsentant ein Apartheid-System etabliert, klagt die Bürgerrechtlerin Azra Zornic. Die EU versage, wenn es darum gehe, in Bosnien ihre eigenen Werte zu verteidigen.
"Wenn westliche Akteure nicht mehr als Garant für eine demokratische Korrektur wahrgenommen werden, wird es kritisch", sagt die Analystin Lejla Gacanica. Viele fühlten sich im Kampf gegen die kriminellen Eliten im Stich gelassen.
Nährboden für Radikalisierungen
Nicht nur in Bosnien, auch in anderen Balkanstaaten zieht die Enttäuschung weite Kreise: Derzeit erwägen 67 Prozent der jüngeren Generation, so Ergebnisse des Balkanbarometers 2022, die Region zu verlassen.
Rasant verlieren die Länder damit weiter an Human-Kapital und Wirtschaftskraft. In vielen Städten von Belgrad bis Sarajevo fehlt es schon jetzt an Handwerkern: "Die sind in Berlin", heißt es lapidar. Die Folge: Die ohnehin armen Bevölkerungen zahlen höhere Preise für schlechtere Serviceleistungen.
Vor allem aber nimmt die Anfälligkeit der Gesellschaften für weitere Radikalisierungen zu. "Da die Träger liberaler, demokratischer Werte verschwinden", warnt Politologin Topic, "schwindet allmählich auch der letzte Widerstand gegen Nationalismus und Machtmissbrauch".