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"Abwehrhaltung in Behörden"

Andrea Grunau4. März 2014

EU-Zuwanderer in Deutschland müssen ihre Rechte bei den Behörden oft erkämpfen. Claudius Voigt vom Paritätischen Wohlfahrtsverband berichtet im DW-Interview von Rechtsunsicherheit und Diskriminierung.

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Porträt Claudius Voigt, Experte für Migrationsberatung (Foto: GGUA Münster)
Bild: GGUA

DW: Herr Voigt, Sie schulen deutschlandweit Migrationsberater und Jobcenter-Mitarbeiter, welche Rolle spielt das Thema EU-Zuwanderung?

Claudius Voigt: Das Thema ist überall, bei uns klingelt ständig das Telefon. Ein Frauenhaus hat mir gerade den Fall einer Österreicherin geschildert, die keine Leistungen bekommt und durch einen Krankenhausaufenthalt Schulden aufgehäuft hat. Unterstützung erhalten EU-Bürger meist erst dann, wenn ein Rechtsanwalt oder eine Beratungsstelle mit einem Eilantrag beim Sozialgericht droht. Auch Mitarbeiter von Jobcentern oder Arbeitsagenturen sind Leidtragende der rechtlichen Unsicherheit. Sie handeln nach gesetzlichen Vorgaben, wenn sie Leistungen wie Hartz IV verweigern, doch es zeichnet sich ein Widerspruch zu EU-Recht und Verfassungsrecht ab. Die Sozialgerichte entscheiden mehrheitlich, "Ihr müsst doch zahlen".

Probleme gibt es beispielsweise, wenn Menschen ohne Krankenversicherung nach Deutschland kommen. Welche Regeln gelten?

Die "Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa" besagt, dass der Staat, in dem ich arbeite, zuständig ist für alle Bereiche der sozialen Sicherheit, die Krankenversicherung, die Rentenversicherung usw. Wenn ich keine Beschäftigung habe, ist der Staat zuständig, in dem ich meinen Lebensmittelpunkt habe. Theoretisch ist das gut geregelt, das Problem ist die Praxis. Viele Menschen, gerade aus Rumänien oder Bulgarien, haben keine Krankenversicherungskarte, weil sie vielleicht im Heimatland nicht registriert waren. Diese EU-Bürger müssen sich an medizinische Notfalldienste wenden oder ehrenamtliche Ärzteinitiativen, die kostenlos behandeln. Eine Art Subsystem hat sich gebildet für die unterste Klasse, die de facto keinen Zugang zu den regulären Systemen hat.

Warum ist der Zugang ins reguläre System so schwierig?

Versuchen Sie mal, einen Bescheid des Jobcenters oder Antragsformulare der Krankenversicherung zu verstehen. Da haben Inländer schon Schwierigkeiten. Wenn Sprachkenntnisse fehlen, keine Beratung stattfindet oder sogar jemand Analphabet ist, ist es nicht möglich, die Bürokratie zu durchdringen. Dazu kommt, dass in manchen Städten Migranten aus EU-Staaten prekär beschäftigt sind in Scheinselbständigkeitsverhältnissen oder in Schwarzarbeit, weil sie vor 2014 keine Arbeitserlaubnis bekommen haben. Nur über versicherungspflichtige Beschäftigung oder den Bezug von Hartz IV-Leistungen kommen sie in die Krankenversicherung. Weil umstritten ist, ob arbeitssuchende EU-Bürger Anspruch auf Hartz IV haben, werden viele abgelehnt.

Manche Zuwanderer berichten von Diskriminierungen, hören Sie auch davon?

Die größte Diskriminierung war bis 2013, dass Menschen aus Bulgarien, Rumänien und Kroatien noch eine Arbeitserlaubnis benötigten. Sie waren gezwungen, jede Tätigkeit anzunehmen und standen in vielen Fällen völlig rechtlos da. Dann sehe ich Diskriminierungen, wenn die Debatte reduziert wird auf die Ethnie der Roma. Es ist eine gefühlte Wahrnehmung, denn es gibt keinen Roma-Pass, das sind europäische Staatsbürger. Man benutzt Begriffe wie "Sozialtourismus" oder "Armutsmigration" und setzt das gleich mit Roma. Es geht nicht um Roma sondern um Verlierer der politischen und wirtschaftlichen Wende in den osteuropäischen Staaten wie auch der wirtschaftlichen Krise in den südeuropäischen Staaten.

Es kommen nicht nur Rumänen oder Bulgaren, sondern das erleben wir genauso mit Menschen aus Griechenland oder Portugal, die dort ihre Existenz verloren haben und auf der Straße leben. Das Sozialsystem ist zum Teil zusammen gebrochen. Das betrifft bei Griechenland selbst hochgebildete Ärzte, die seit Monaten ihren Lohn nicht ausgezahlt bekommen und als Armutsflüchtlinge nach Deutschland kommen. Das hat nichts mit ethnischer Zugehörigkeit zu tun sondern mit der sozialen Situation.

Der dritte Bereich von Diskriminierung ist eine Abwehrhaltung in Behörden. Beim Antrag auf Kindergeld verlangte eine Familienkasse eine Freizügigkeitsbescheinigung, obwohl es die seit einem halben Jahr nicht mehr gab. Die Familie bekam ihr Recht erst, nachdem eine Beratungsstelle sich an die Aufsichtsbehörde in Nürnberg gewandt hat. Wenn ein EU-Bürger zum Jobcenter geht und Hartz IV beantragen will, ist eine häufige Reaktion: "EU-Bürger bekommen sowieso nichts, wir geben Ihnen die Antragsformulare nicht". Das ist rechtswidrig, aber gängige Praxis. Ein Vorwurf ist der CSU zu machen, die gezündelt hat mit dem Motto: "Wer betrügt, der fliegt". Es wurde eine Stimmung hervorgerufen, die zu einer Gleichsetzung führt: EU-Bürger - besonders Rumänen und Bulgaren - kommen wegen Sozialleistungen. Man tut alles, um das zu verhindern und gibt z.B. Formulare nicht heraus. Das ist Diskriminierung, die nur auf Staatsangehörigkeit zielt, aber nicht offen ist.

Entstehen Probleme auch, weil die Lage rechtlich nicht eindeutig geklärt ist?

Das ist der Kern. Jobcenter lehnen die Leistung Hartz IV ab, weil im deutschen Gesetz ein Ausschluss für Ausländer steht und auf der anderen Seite sehen Gerichte, dass damit Grundrechte und europäisches Recht verletzt werden. Das ist für alle schwierig, weil es keine Klarheit gibt, bis das höchstrichterlich vom Europäischen Gerichtshof entschieden ist. Man müsste das schneller lösen.

Wir können Integrationspolitik nicht vernünftig betreiben, wenn die Leute keinen Zugang zu den Regelsystemen kriegen. Da wird nicht nur das Grundrecht auf das Existenzminimum verletzt, sondern auch das Interesse des Staates, vernünftig Integration zu betreiben. Wer so eine Politik macht, muss sich nicht wundern, wenn er Kriminalität oder Elendsviertel produziert. Betroffene Städte kommen damit nicht klar. Der Vorwurf ist an die Bundespolitik zu richten. Wenn der Bund sagen würde, sie kriegen die Grundsicherung Hartz IV, würden für die Kommunen viele Leistungen entfallen wie Notfallunterbringung, Jugendhilfe, Notfallversorgung im Krankheitsfall oder ähnliches. Hartz IV zahlt der Bund und der entzieht sich seiner Verantwortung, Sozialleistungen als Bundesangelegenheit zu betrachten.

In einigen Jahren wird man sagen: Warum haben wir nicht von Anfang an Integration gemacht? Das hätten wir wissen müssen aus der ganzen Gastarbeiterdebatte. Damals hat man auch Probleme ignoriert und gesagt, die sind nur vorübergehend hier oder die sollen wieder gehen. Das machen die Zuwanderer nicht. Das zeigt natürlich, wie prekär die Situation etwa in Rumänien oder auch in Griechenland ist. Irgendwann muss man die Realität anerkennen, aber dann ist ganz viel Zeit vergangen.

Das Interview führte Andrea Grunau.

Claudius Voigt schult in einem Projekt des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Mitarbeiter von Migrationsberatungsstellen und Jobcenter-Mitarbeiter aus ganz Deutschland. Sein Team hat im vergangenen Jahr 1700 Personen weitergebildet und bekommt ständig Rückmeldungen aus der Praxis.

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