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Extra-Feiertage zum Stromsparen

Astrid Benölken
13. April 2022

Autofreie Sonntage in Albanien, Stromsperren im Kosovo, Schlangen vor Banken in Bosnien-Herzegowina: Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine muss sich der Balkan wirtschaftlich an eine neue Realität anpassen.

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Albanien | Proteste in Tirana gegenn Anstieg der Lebenshaltungskosten
Bild: Ani Ruci/DW

Wenn er der Inflation beim Wachsen zuzusehen möchte, muss Nebih Bushaj nur einen Spaziergang machen. Der Gemüsehändler in der Nachbarschaft schreibt jede Woche höhere Zahlen auf die Preisschilder, beim Bäcker bezahlt der Student in Tirana nun eineinhalb Mal so viel für seine Brötchen und besucht Bushaj mit dem Bus seine Eltern in Shkodra, koste das Ticket nun 400 statt 350 Lek, erzählt er. Bushajs Alltag in seinem Heimatland Albanien ist vor allem deswegen teurer geworden, weil die Kosten für den Transport in die Höhe geschossen sind. Zwischenzeitlich lag der Benzinpreis im Land bei 260 Lek pro Liter, umgerechnet mehr als zwei Euro, und war damit ähnlich hoch wie in Deutschland. Allerdings: Während in Deutschland das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bei etwa 46.000 Dollar liegt, sind es in Albanien nur etwa 5.200 Dollar.

Schon wegen der Coronapandemie waren Energie, Waren und Lebensmittel auf dem Weltmarkt zuletzt teurer geworden, doch der Krieg in der Ukraine hat die Preise in den Ländern auf dem Balkan geradezu absurd in die Höhe schnellen lassen. Eine Belastungsprobe, nicht nur für Albanien, sondern die gesamte Balkanregion, die eine der ärmsten Gegenden in Europa ist und in der es in privaten Haushalten ohnehin wenig finanziellen Spielraum gibt. "Die derzeitige Inflation trifft ärmere Menschen in dieser Region deutlich härter, denn sie geben einen viel größeren Anteil ihres Einkommens für Essen aus", sagt Peter Sanfey, Ökonom bei der European Bank for Reconstruction and Development (EBRD). Während die Menschen in Deutschland im Schnitt nur etwa 15 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben, sind es in Albanien 41 Prozent, im Kosovo ähnlich viel, in Serbien, Montenegro und Nordmazedonien bezahlen Haushalte immerhin ein Drittel ihres Einkommens für Essen.

Peter Sanfey | European Bank for Reconstruction and Development
Peter Sanfey - Ökonom bei der European Bank for Reconstruction and Development (EBRD)Bild: European Bank for Reconstruction and Development

Hohe Lebensmittelpreise, Angst ums Geld, Proteste

Der direkte Handel mit Russland und der Ukraine bei Lebensmitteln ist relativ klein, sein Wegfall wirkt sich wenig auf die wirtschaftliche Stabilität der Länder aus, schätzt Balkan-Wirtschaftsexpertin Ana Kresic von der EBRD. Aber die insgesamt hohe Inflation, die in dieser Region so viel unmittelbarer spürbar ist als anderswo, erschüttert das Gefühl von Sicherheit, weckt Erinnerungen an die 90er Jahre.

In Bosnien und Herzegowina bildeten sich im Februar lange Schlangen, weil Menschen um ihre Einlagen bei der russischen Sberbank fürchteten, die von den EU-Sanktionen getroffen wurde. Erst nachdem klar war, dass die lokalen Banken Nova Banka und ASA Banka die Geschäfte übernehmen würden und die Einlagen sicher waren, legte sich die Panik.

Albanien | Proteste in Tirana gegen Anstieg der Lebenshaltungskosten
Proteste in Tirana gegen Anstieg der LebenshaltungskostenBild: Ani Ruci/DW

In Albanien schlägt der immer stärker werdende finanzielle Druck zunehmend in Wut um. Ab Mitte März protestierten täglich bis zu 30.000 Menschen. In Tirana marschierten zwei Wochen lang jeden Tag Menschen buhend und pfeifend zum Büro von Premierminister Edi Rama. Mittendrin: Nebih Bushaj. "Selbst wenn ich keine finanziellen Probleme wegen der Preiskrise hätte, wäre ich auf der Straße, denn das ist das einzig Richtige. Wir sind ein armes Land und haben keine sozialen Maßnahmen, um ärmere Familien und Gemeinschaften zu schützen", sagt der 28-Jährige. Seiner Meinung nach legt die Preiskrise offen, wie gut es einzelnen Albanern finanziell geht, während ein Viertel der Einwohner noch immer unter der Armutsgrenze lebt - und dass sozialpolitische Maßnahmen wie ein höherer Mindestlohn längst überfällig sind.

Schlimmste Energiekrise seit Jahren

Nirgendwo aber hat die Krise so klar strukturelle Probleme bloßgelegt wie im Energiesektor der Balkanländer. "Durch die Krise werden die seit langem vorhandenen Schwachstellen im Bereich der Energie deutlich", sagt Ökonomin Kresic.

Ana Kresic | European Bank for Reconstruction and Development
Ana Kresic, European Bank for Reconstruction and Development

Ein Großteil der Länder auf dem Westbalkan ist extrem kohleabhängig. Kosovo gewinnt fast 95 Prozent seiner Energie aus Kohle, Nordmazedonien 80 Prozent, Serbien und Bosnien-Herzegowina sind mit jeweils knapp 70 Prozent Anteil am Energiemix auf Kohle und funktionierende Kohlekraftwerke angewiesen. In Serbien, Nordmazedonien und Kosovo kam es bei den staatlichen Kohlekraftwerken jedoch schon vor der Energiekrise immer wieder zu Fehlfunktionen und Ausfällen. Dass sie diese Probleme nicht beseitigt haben, kommt die Länder nun teurer zu stehen. "Wenn man im Energiesektor Fehler macht, muss man den Strom von anderswo importieren. Und das passiert jetzt eben zu deutlich höheren Preisen", erläutert Kresic.

Das hat die Länder in die schlimmste Energiekrise seit Jahren gestürzt. Nordmazedonien, Albanien und der Kosovo haben zum Teil schon Ende vergangenen Jahres den Energie-Notstand ausgerufen, durch den Krieg hat sich die Situation noch weiter zugespitzt. In Nordmazedonien stiegen die Preise für die Verbraucher stark an, im Kosovo subventioniert die Regierung die Strompreise zwar großzügig, ächzt aber unter der zusätzlichen Last. Das stromintensive Schürfen von Kryptowährungen hat die Regierung verboten und bis auf weiteres tägliche Stromausfälle geplant. Zwei Stunden wird nun jeden Tag mindestens der Strom abgeschaltet. Wer in dieser Zeit weiterhin Licht und Energie haben möchte, muss auf Generatoren zurückgreifen, die aber bei den derzeitigen Benzin- und Dieselpreisen für viele kaum bezahlbar sind. 

Wasserkraftwerke ohne Wasser

Die EU hat in den letzten Jahren den Ausbau von Gasnetzwerken für mehr Energie-Stabilität auf dem Balkan vorgeschlagen. Doch angesichts der gestiegenen Gaspreise wäre auch das nur eine vorübergehende Lösung, warnte vor Kurzem das CEE Bankwatch Network, ein Zusammenschluss verschiedener europäischer Umweltorganisationen. Statt sich wie die EU von fossilen Brennstoffen abhängig zu machen, sei die derzeitige Krise die Chance auf einen echten Wandel, schrieb das Netzwerk in einem offenen Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: "Die Alternative zu russischem Gas ist für einen Großteil der Westbalkanländer weder aserbaidschanisches Gas, noch Flüssiggas, noch irgendein anderes Gas. Die Alternative ist eine energieeffiziente Wirtschaft, die auf nachhaltigen Formen von erneuerbarer Energie fußt."

Kohlemine in Kostolac, Serbien
Kohlemine in Kostolac, SerbienBild: picture alliance/AP Photo/M. Drobnjakovic

"Die Situation gerade zeigt, dass wir die Energiewende beschleunigen müssen", sagt auch Kresic. Wichtig dürfte dabei sein, die Energiequellen zu diversifizieren.

Denn Albanien hat zum Beispiel weder Kohle- noch Gaskraftwerke, weil das Land seine Energie fast ausschließlich durch Wasserkraft gewinnt. Deswegen muss Albanien auch weder Kohle noch Gas aus Russland importieren. Allerdings hat es in den vergangenen Monaten kaum geregnet, viele Flüsse führen zu wenig Wasser und der Schnee in den Bergen schmilzt noch nicht ab. Ende März gab Energieministerin Belinda Ballaku bekannt, dass die Wasserkraftwerke viel zu wenig Energie produzieren. "Von heute an sind unsere Energieimporte höher als unsere eigene Produktion", sagte sie in einer Videobotschaft am 20. März. Um Energie zu sparen, gab es für Schulkinder und Staatsbedienstete einen extra Feiertag im März, ab Mitternacht werden die Straßenlaternen in Tirana ausgeknipst und öffentliche Gebäude nicht mehr beleuchtet.

Krieg, Krise, leere Kassen

Der inzwischen gefallene Regen schafft vorübergehend etwas Abhilfe, genauso wie die zwei gemieteten Kraftwerkschiffe, die bald im Hafen von Vlora ankern und Energielücken schließen sollen. Doch eigentlich produziert Albanien im Frühling so viel Energie, dass ihr Export die Staatskasse entlastet. Nun fehlen nicht nur diese Einnahmen, es kommen auch noch Mehrkosten für den gerade besonders teuren Energieimport hinzu, 30 Millionen Euro für ein soziales Entlastungspaket, das die Regierung nach den Unruhen verabschiedet hat, obendrauf einige Millionen für Busunternehmen, damit diese nicht weiter die Ticketpreise anheben.

In einer ähnlichen Situation sind auch die anderen Balkanstaaten. Nordmazedonien beispielsweise hat sich für indirekte Steuerkürzungen und zusätzliche finanzielle Unterstützung von Rentnern und Geringverdienern entschieden, um besonders heftig Betroffene zu entlasten; Serbien und im Kosovo halten die Energiekosten stabil, trotz stark gestiegener Preise. Doch je länger Krieg und Krise andauern, desto mehr wird die Situation für die ohnehin belasteten Staatskassen zum Balanceakt.

Bosnien Herzegowina Kraftwerk bei Stanari
Kraftwerk bei Stanari in Bosnien-HerzegowinaBild: EFT

"Wir gehen nicht davon aus, dass eines der Länder auf dem Westbalkan in eine Rezession fallen wird", sagt EBRD-Ökonomin Kresic. "Aber wir denken, dass das Wachstum in nächster Zeit aufgrund der Situation schwächer sein wird." Am stärksten hat die EBRD seit dem Angriffskrieg in der Ukraine ihre Balkan-Wachstumsprognosen für Montenegro korrigiert. Als wirtschaftlich kleinster der Westbalkan-Staaten ist das Land besonders anfällig für Einflüsse von außen. Tourismus allein trägt etwa zu einem Viertel zum Bruttoinlandprodukt bei, die Gäste kommen vor allem aus Russland und zuletzt überwiegend aus der Ukraine. Schon jetzt ist klar, dass im kommenden Sommer viele Gäste fehlen werden.

Sanktionen: Serbien sucht die Sonderrolle

Während sich Albanien, Kosovo, Nordmazedonien und Montenegro früh offen auf die Seite der EU und der Ukraine gestellt haben - Kosovo sogar, obgleich die Ukraine das Land offiziell nicht einmal anerkannt hat - erfährt Russland in Teilen des Balkans auch Rückhalt. Obwohl etwa die Führung Bosnien-Herzegowinas zwar von Kriegsbeginn an die Ukraine unterstützt, ist ein Großteil der Menschen in der bosnisch-herzegowinischen Teilrepublik Republika Srpsk klar prorussisch gestimmt, auch weil Russland die Unabhängigkeitsbewegung dort unterstützt.

Ähnlich ist die Stimmung in Serbien, wo Russland viel stärker als ein enger Verbündeter des Landes gesehen wird als die EU, wie eine Studie des European Council on Foreign Relations aus dem vergangenen Jahr zeigt. Russland hat in der Vergangenheit strategisch in die Region investiert, mit verschiedenen Pipeline-Projekten und den staatliche kontrollierten Ölunternehmen Zarubezhneft und Gazprom-Tochter Neft. Seit 2008 hält Neft gar die Mehrheit von Serbiens größter Öl- und Gasfirma Naftna Industrija Srbije (NIS).

Noch tiefer ist Russland in Serbiens Gaslieferungen verstrickt. Im vergangenen Jahr hatte die russische Führung Serbien in einer Geste der "Freundschaft", wie Präsident Putin betonte, ein halbes Jahr lang einen Festpreis für russisches Gas angeboten. Während Nachbarländer wie Nordmazedonien und Bosnien-Herzegowina, die beim Gas voll auf russische Importe angewiesen sind, also unter den immer höheren Markt-Gaspreisen von über 800 Dollar pro 1000 Kubikmetern ächzten, zahlte Serbien gerade einmal 270 Dollar für die gleiche Menge.

Diese "Freundschaft" ist dem wiedergewählten Präsidenten Aleksandar Vučić sogar ein Zerwürfnis mit der EU wert: Als einziges Land in der Region entschied sich Serbien, der EU-Linie nicht zu folgen und keine Sanktionen gegen Russland zu verhängen – obwohl sich EU-Beitrittsländer eigentlich dazu bereiterklären, ihre Politik in den Einklang mit der EU-Linie zu bringen. Bis heute fliegt Air Serbia als eine von nur noch wenigen Fluglinien Russland an. Immer wieder betonte Vučić die Neutralität seines Landes. Inzwischen hat er zwar den Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat unterstützt, ist ansonsten aber unwillig, sich offen gegen Russland zu stellen.

Und der nächste freundschaftliche Gasdeal mit dem Partner im Osten gilt bereits als beschlossene Sache: Mitte Mai soll der Vertrag für die nächsten zehn Jahre unterschrieben werden.

Dabei sind gute Beziehungen zur EU gerade jetzt wichtig. Denn dort liegen die größten Absatzmärkte des Westbalkans.

Abhängig von einer florierenden EU

Vor allem für Bosnien-Herzegowina, Serbien und Nordmazedonien und ihre Automobilindustrien ist entscheidend, dass die EU stabil durch die Krise kommt. Bosnien-Herzegowina ist darüber hinaus abhängig von Geldüberweisungen aus dem Ausland, die knapp acht Prozent zum BIP beitragen. Geht das Wirtschaftswachstum in der EU zurück, könnte das auch weniger und geringere Überweisungen bedeuten. "Wie stark die EU von der derzeitigen Krise getroffen wird, das wird sich in den Bruttoinlandsprodukten der Länder der Region wiederspiegeln", fasst Kresic von der EBRD die Situation zusammen.

Produktion im Fiat-Werk in Kragujevac, Serbien
Produktion im Fiat-Werk in Kragujevac, SerbienBild: picture-alliance/dpa/S. Suki

Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine könnte die Situation auf dem Balkan aber auch langfristig stabilisieren. Dann nämlich, wenn die EU wie angekündigt, ihre zuletzt ins Stocken gekommene EU-Beitrittsverhandlungen wieder ernst nimmt.

Ökonom Peter Sanfey ist guter Dinge, dass der Westbalkan gestärkt aus der Krise kommen wird. Die Region und seine Bewohner hätten in den letzten Jahren bewiesen, wie resilient sie seien, sagt er: "In den vergangenen 20 Jahren hat die Region immer mehr an Stabilität gewonnen. Die Finanzkrise, die COVID-Pandemie - die Region hat schon andere Krisen durchgestanden."

Doch klar ist: Solange es keinen Frieden in der Ukraine gibt, wird die Situation angespannt bleiben. In Albanien gibt es nun einmal im Monat autofreie Sonntage und ein Beratungsgremium, das die Benzinpreise deckelt. Doch für Nebih Bushaj hat sich dadurch wenig verändert: "Viele Geschäfte haben die Preise erhöht, als die Benzinpreise stiegen, aber jetzt, wo die Benzinpreise niedriger sind, gehen sie mit ihren Preisen nicht wieder runter." Würden die Protestmärsche wieder losgehen, sagt Bushaj, wäre er mit als erstes dabei.

Porträt einer Frau mit langen, blonden Haaren, die eine Brille trägt
Astrid Benölken Redakteurin und Reporterin mit Schwerpunkt Europa