Der Schmerz bleibt
22. Juli 2021Das Attentaterschüttert Deutschland: Am 22. Juli 2016 bewaffnet sich der 18-Jährige David S. und erschießt rund um das Münchener Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) neun Menschen. Die meisten Opfer sind Jugendliche, die jüngsten gerade 14 Jahre. Mehr als 30 weitere Menschen werden verletzt. Der Attentäter wird Stunden später von der Polizei gestellt und tötet sich selbst. Die Bilder gehen um die Welt: Der Eiffelturm von Paris leuchtet nach der Tat in Solidarität mit den Opfern in Schwarz-Rot-Gold, den deutschen Nationalfarben.
Der Tod der Tochter, des Enkels, der Verlust ihrer Angehörigen ist der größte Schmerz für die Familien. Aber er bleibt nicht der einzige. Denn keiner der neun Ermordeten wurde durch Zufall zum Opfer. Der Täter David S. tötete sie aus rassistischem Hass. Noch Tage vor der Tat prahlte er damit, dass er Menschen "abknallen" wolle, weil sie Muslime oder Türken sind. Und dass er am selben Tag wie Adolf Hitler Geburtstag habe.
Er war Mitglied einer internationalen Chatgruppe, die der Hass gegen Flüchtlinge verbunden hat. Seine Taten verübt er am fünften Jahrestag des Attentats des Rechtsextremisten Anders Breivik auf der norwegischen Insel Utoya.
Anwalt: Opfer werden zu Tätern gemacht
Die ermittelnde Polizei in München aber legte sich schon kurz nach der Tat auf ein anderes Motiv fest: Es sei ein Amoklauf gewesen und David S. psychisch gestört. Er sei ein Mobbingopfer von Migranten geworden und habe sich rächen wollen.
Bis Oktober 2019 halten die Behörden offiziell an dieser Version fest. Für die Opferfamilien ist das ein Schlag ins Gesicht. "Wenn wir den Täter als 'Mobbing-Opfer' beschreiben, führen wir eine gewisse Täter-Opfer Umkehr durch", sagt Onur Özata.
Der Rechtsanwalt hat die Interessen einer Opferfamilie im Prozess gegen den Verkäufer der Tatwaffe vertreten: "Wir schieben den Angehörigen eine gewisse Schuld zu, da ja der Grund für die Taten in ihrem Verhalten liege."
Schnelle Entschädigung
Die öffentliche Aufarbeitung des Attentats von München ist ein widersprüchlicher Prozess. Einerseits bekommen die Opferfamilien Entschädigung. "Die Stadt München hat nach dem Attentat schnell einen unbürokratischen Entschädigungsfonds von 500.000 Euro aufgelegt", lobt Miriam Heigl. Sie leitet die Fachstelle für Demokratie der Stadt München: "Wir waren hier echt schnell."
Auch die Fortbildungen der Mitarbeiter in den bayerischen Behörden zum Thema Rassismus werden verstärkt und Forschung dazu stärker gefördert. Aber der Nachholbedarf in Deutschland scheint sehr groß. "Bis heute ist das Wissen über das Kriminalitätsphänomen der Vorurteilskriminalität rar", bilanziert die Münchener Rechtsextremismusforscherin Britta Schellenberg: "In der Aus- und Fortbildung der Polizei spielt es, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle."
Die Folge: Rassistische Hassverbrechen würden bis heute oft nicht richtig eingeordnet und ermittelt. Und die Perspektive der Opferzeugen oft nicht ernst genommen.
Radikalisierung im Internet
Das Attentat von München im Jahr 2016 hat noch ein weiteres Problem deutlich gemacht: Die Polizei ist schlecht aufgestellt, wenn es um den Kampf gegen rassistischen Hass im Internet geht. Der Täter David S. war Teil einer internationalen Szene, die sich in den sozialen Medien radikalisierte. In seiner rassistischen Chatgruppe tummelten sich rund 250 junge Menschen aus mehreren Ländern.
Der Mitgründer der Gruppe wurde ein Jahr nach David S. selbst zum Attentäter: 2017 erschießt William A. im US-Bundesstaat New Mexico zwei Jugendliche. Das Motiv: Rassismus. Opferanwalt Özata warnt vor der Vernetzung von Extremisten: "Da muss man sehr wachsam sein. Ich glaube, die Behörden sind zu sehr darauf geeicht, auf nationale Organisationen zu schauen. Aber die Musik spielt eben auch im Internet."
In einem sind sich Rechtsextremismus-Forscher, städtische Demokratiebeauftragte und Opferanwälte einig: Staat und Gesellschaft müssten solidarischer werden mit den Opfern rassistischer Gewalt. Damit sie nicht ein zweites oder drittes Mal zu Opfern werden. Durch staatliche Institutionen wie Behörden, Polizei und Gerichte.