Sierens Antwort auf Chang Ping
12. Juni 2014Ich möchte mit den wenigen Übereinstimmungen zu Chang Pings Position beginnen: Ich teile seine Forderung nach mehr Meinungsfreiheit in China und halte es ebenso wie er für falsch und schädlich, dass diejenigen, die den Opfern des 4. Juni öffentlich gedenken wollen, eingesperrt werden. Aber das ist im Grunde selbstverständlich für jemanden wie mich, dessen Bücher in der chinesischen Übersetzung in China stark zensiert werden und deshalb jeweils in einer unzensierten Version in Hongkong erscheinen mussten.
Allerdings bemühe ich mich, nicht selbst unfair zu sein, nur weil ich unfair behandelt wurde. Womit wir bei den unterschiedlichen Auffassungen wären. Ich bin in einem Rechtssystem aufgewachsen, in dem selbst der schlimmste Massenmörder Rechte hat. Werte, von denen ich zutiefst überzeugt bin und von denen ich mir wünsche, dass sie möglichst tief in China verankert werden können. Wenn ein Richter zum Beispiel am Ende der Beweisführung zu dem Ergebnis kommt, dass der Tod eines Menschen fahrlässig, aber nicht heimtückisch herbeigeführt wurde, dann wird aus einer Mordanklage ein Urteil wegen fahrlässiger Tötung, mag es für die Hinterbliebenen auch noch so unerträglich sein. Dem Richter dann vorzuwerfen, er nähme den Täter in Schutz, entspricht nicht unseren Wertvorstellungen.
Quellen können nicht Geschichte verfälschen
Von dieser Haltung geprägt, habe ich auf Bitten des Leiters der DW-Chinaredaktion, Matthias von Hein, die Gespräche von Günter Schabowski und Helmut Schmidt mit der chinesischen Führung beleuchtet. Von Hein hat mir deutlich gemacht, welche Ausrichtung er sich für den Text wünscht und lag damit völlig richtig. Denn es sind zentrale Quellen, die bei der Bewertung der Ereignisse vom 4. Juni ebenso nicht fehlen dürfen, wie die von Chang genannten. Mir nun vorzuwerfen, ich würde "die chinesische Geschichte verfälschen", nur weil ihm die Inhalte der Quellen nicht passen, zeugt vor allem von einem: Er hat andere Vorstellungen von Gerechtigkeit und Fairness als ich. Er hält es tatsächlich für "inakzeptabel", dass ich "nach westlichen Vorstellungen von Justiz und Gerechtigkeit" zwischen "Ausrutschern und geplanten Aktionen, Einzeltat und Serientat" unterscheide und "eine kollektive Verurteilung vermeide." Damit hat unsere kleine Debatte doch noch ihren Sinn bekommen. Die Unterschiede zwischen seiner und meiner Position sind nun jedem deutlich: Ja, ich finde es gut, dass wir keine Sippenhaft mehr haben.
Dass Chang zudem Helmut Schmidt herablassend als einen "selbsternannten guten Freund von Deng Xiaoping" bezeichnet, sagt mehr über ihn selbst als über Helmut Schmidt. Ich kann ihm versichern, dass diese Freundschaft auf Gegenseitigkeit beruhte. Im Übrigen hat Schmidt, anders als Chang leichtfertig behauptet, die Niederschlagung nie "gerechtfertigt". Er versucht sie zu erklären, so wie Orville Schell, jüngst am 4. Juni in einem DW-Interview. Schell war Augenzeuge der Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz und ist nun wirklich unverdächtig, der KP nahe zu stehen. Dennoch kommt er zu dem Schluss, dass die Menschen auf dem Tiananmen-Platz "sich von einer Welle aus Idealismus und Optimismus hinweg tragen" ließen - "bis sie den Sinn für die Realität verloren, wie weit die Dinge tatsächlich getrieben werden konnten [...] Die Führer der Demonstrationen verloren am Ende die Kontrolle über die Bewegung." Auch eine sehr interessante Quelle, die das Bild der Ereignisse differenzierter werden lässt.
Der Besuch der DDR-Politiker in Peking hatte Folgen
Auch in der Einschätzung der Rolle des 4. Juni für die 89er Freiheitsbewegung in der DDR stimme ich mit Chang nicht überein. Ich bin nicht so sicher wie er, dass die richtige Haltung der Demonstranten in Leipzig ausreichend gewesen wäre, um den damaligen Staats- und Parteichef Egon Krenz davon zu überzeugen, keine Panzer gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen. Der persönliche Eindruck der Folgen des 4. Juni, den die DDR-Politiker in Peking bekamen, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Da kann man anderer Meinung sein .Meine Einschätzungals "grob unfair" gegenüber den Demonstranten zu bezeichnen, macht mich ratlos.
Angesichts dieses Sammelsuriums ist es fast nicht mehr nötig zu erwähnen, dass ich nie "allwissend" einen "Schlussstrich unter die Ereignisse" gezogen habe, sondern immer wieder fordere, dass jeder darüber reden dürfen soll, der es will. Dass 1989 ein Ausrutscher in der neuen chinesischen Geschichte ist, ist für mich historisch allerdings offensichtlich. In den knapp 40 Jahren seit dem Ende der Kulturrevolution blieb der 4. Juni, so schlimm er auch ist, zum Glück ein singuläres Ereignis. In den 40 Jahren vor 1976 hingegen war sehr viel Schlimmeres gang und gäbe. Damit sind die Unterschiede zwischen der Zeit vor und während der Kulturrevolution und dem Zeitraum nach der Kulturrevolution für mich sehr viel größer als die Gemeinsamkeiten. Insofern kann ich dem Argument der "systemischen Kontinuität" von Chang nur bedingt folgen.
Gehirnwäsche im modernen China?
Sein Text bestärkt mich darin, vor den Folgen einseitiger Berichterstattung im Westen zu warnen. Denn diese schadet dem Anliegen der Aufklärung, weil sich die Fronten dadurch verhärten. Gerne erläutere ich noch einmal, was ich damit meine: Überschriften wie "Erfolgreiche Gehirnwäsche der KP"und Kommentare wie: "Die Bevölkerung wurde einer beispiellosen Gehirnwäsche unterzogen" oder "Ein ganzes Volk wird zu Amnesie gezwungen" sind völlig überzogen, wie vieles andere, was in der Zeitung steht.
Ganz abgesehen davon, dass es sowohl im Mao-China als auch in Nordkorea Vorgänge gab und gibt, die den Titel Gehirnwäsche eher verdienen würden, stellt sich Frage: Wie soll das funktionieren in einem Land in dem es Reisefreiheit gibt und in dem, trotz großer Hindernisse, die globale Meinungsvielfalt zugänglich ist? Denn wenn Chang davon spricht, dass "Medien mundtot" gemacht werden, das Internet "scharf kontrolliert" wird und sogar "Wortspiele mit dem Datum 4. Juni gelöscht" werden, dann ist das zweifellos richtig. Aber es ist eben nur eine Seite der Medaille: Die Zensur lässt sich durch einen VPN-Tunnel leicht und billig umgehen.
Viele Chinesen wollen Vergessen
Damit konnte man in China selbst am 4. Juni jederzeit die internationale Berichterstattung zur Kenntnis nehmen, übrigens auch die Positionen der Exilchinesen-Bewegung. Dass deren Positionen von vielen nicht zur Kenntnis genommen werden, liegt also nicht nur an der Zensur, sondern muss auch noch andere Gründe haben. Einer liegt in der wohl wichtigsten Fehleinschätzung von Chang begründet: "Die Menschen wollen die Wahrheit."
Menschen wollen leider auch gerne vergessen. Immer wieder hört man in China: "Über den 4. Juni soll die nächste Generation sprechen." Das Vergessen ist auch eine Freiheit der Menschen, die man ihnen nicht nehmen darf. Ebenso wie man das Erinnern nicht verbieten kann, darf man auch das Vergessen nicht verbieten. Gegen das Vergessen argumentieren soll und darf man. Doch im Zweifel gilt in China noch viel mehr als anderswo auf der Welt: Konsum ist verlockender als die Erinnerung an schlechte Zeiten.
DW-Kolumnist Frank Sieren lebt seit 20 Jahren in Peking