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Politik

Die Fakes zum NATO-Beitritt von Schweden und Finnland

Astrid Prange de Oliveira | Elmas Topcu | Simone Schirrmacher
19. Mai 2022

Hamsterkäufe, die es nicht gab. Verträge, die ungültig sind. Und Umfragen, die nicht geführt wurden. Zweifelhafte Behauptungen zum geplanten NATO-Beitritt von Schweden und Finnland im DW-Faktencheck.

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Bildkombo | NATO-Beitritt von Schweden und Finnland
Bild: Carl-Olof Zimmerman/Jakub Porzycki/NurPhoto/TT/picture alliance

Bedeutet Finnlands NATO-Beitritt einen Vertragsbruch?

Behauptung: Der geplante NATO-Beitritt Finnlands stelle einen Vertragsbruch dar, heißt es oft von russischer Seite. "Viele Menschen kennen die Geschichte Finnlands und ihre Verwicklungen mit Nazi-Deutschland nicht", schreibt etwa ein User auf Twitter."Russland hat nach dem Zweiten Weltkrieg eine Vereinbarung mit Finnland getroffen, und Finnland hat diese gebrochen."

DW-Faktencheck: Falsch.

Die erwähnte Vereinbarung bezieht sich auf den "Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand" vom 6. April 1948 zwischen Finnland und der damaligen Sowjetunion. In dem Vertrag verpflichteten sich beide Seiten, keine Bündnisse abzuschließen oder Koalitionen einzugehen, die gegen die andere Seite gerichtet sind.

Außerdem sicherten sich die Vertragsparteien gegenseitigen militärischen Beistand zu, wenn Finnland direkt, oder Russland von finnischem Territorium aus angegriffen werden sollte. Der Vertrag wurde 1955, 1970 und 1983 verlängert.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion allerdings wurde die Vereinbarung am 20. Januar 1992 durch den "Vertrag über gute Nachbarschaft zwischen der Russischen Föderation und der Finnischen Republik" ersetzt. Dieser Vertrag enthält im Gegensatz zur alten Vereinbarung keine Verpflichtung zur Bündnisneutralität.

Zweiter Weltkrieg Finnisch-sowjetischer Winterkrieg
Im "Winterkrieg" 1939 wurde Finnland für seinen Widerstand gegen das russische Militär gefeiertBild: UPI/dpa/picture-alliance

Die Neutralität war auch bereits durch die 1992 angestrengten Beitrittsverhandlungen Finnlands mit der EU angepasst worden. Denn mit dem Vertrag von Maastricht akzeptieren Beitrittskandidaten automatisch die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU.

Die erwähnten "Verwicklungen mit Nazi-Deutschland" gehen auf Finnlands Militärbündnis mit dem Deutschen Reich im Zweiten Weltkrieg zurück. Die 1941 geschlossene Allianz war eine Reaktion auf die russische Invasion in Finnland 1939 im sogenannten Winterkrieg.

Durch das Militärbündnis wollte Finnland das im Winterkrieg verlorene Territorium zurückgewinnen. Am 19. September 1944 unterzeichnete Helsinki allerdings gegen den Willen Nazi-Deutschlands einen separaten Waffenstillstand mit Moskau und kämpfte dann auf Seiten der Alliierten. 

 

Die NATO als Kriegstreiberin?

Behauptung: Angesichts der geplanten NATO-Beitritte von Finnland und Schweden warnte Russlands Präsident Wladimir Putin der Nachrichtenagentur dpa zufolge kürzlich bei einem Treffen mit Staats- und Regierungschefs früherer Sowjetrepubliken in Moskau vor einer weiteren Verschlechterung der internationalen Beziehungen. "Dies verschärft die ohnehin nicht einfache internationale Lage auf dem Gebiet der Sicherheit."

DW-Faktencheck: Irreführend.

Das Narrativ der aggressiven NATO wird immer wieder vom Kreml bemüht.

Die linke Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen geht noch einen Schritt weiter. In ihrem Aufruf zum Kongress "Ohne NATO leben – Ideen zum Frieden" für den 21. Mai erklärt sie, dass es "gegenüber Russland nicht zu viele Angebote und Diplomatie gegeben [hat], sondern zu wenige". In dem Aufruf bezeichnet sie die NATO als Kriegsmaschinerie, "weltweit die größte".

Deutschland Berlin Sevim Dagdelen
Abgeordnete Sevim Dagdelen: "NATO ist weltweit größte Kriegsmaschinerie"Bild: Britta Pedersen/zb/dpa/picture-alliance

Fakt ist, dass seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 14 mittel-, ost- und südosteuropäische Staaten in die NATO aufgenommen worden sind. Fünf von ihnen, Norwegen (Gründungsmitglied der NATO), Litauen, Lettland, Estland und Polen, grenzen an Russland. Mit Finnland käme ein weiteres Land mit einer direkten Landesgrenze zu Russland hinzu. Auch der Ukraine wurde 2008 eine NATO-Beitrittsperspektive gegeben, allerdings liegt der NATO-Beitritt des Landes seither auf Eis.

Der Kreml fühlt sich seit Jahren von der NATO-Osterweiterung bedroht und fordert Sicherheitsgarantien. Um die Angst vor militärischen Angriffen zu überwinden, einigten sich die NATO und Russland deshalb nach dem Ende des Kalten Krieges am 27. Mai 1997 auf die NATO-Russland-Grundakte.

In dem Vertrag bekannten sich beide Seiten zum "Verzicht auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt sowie territoriale Unversehrtheit". Auch der Verzicht auf die Stationierung von Atomwaffen in neuen NATO-Mitgliedsstaaten in Mittel- und Osteuropa wurde aufgenommen.  

NATO-Experte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) verteidigt deshalb den Kurs von Finnland und Schweden. "Beide Länder sind trotz NATO-Beitritt sehr vorsichtig, ihr Verhältnis zu Russland nicht zu sehr zu belasten", erklärte er in einemInterview mit dem ZDF.
So besteht die an der Regierung in Helsinki beteiligte finnische Linkspartei "Vasemmistoliitto" auf einer "defensiven Ausrichtung der NATO-Mitgliedschaft". "Wir werden keine Atomwaffen, keine ständigen Militärbasen und keine ständigen NATO-Truppen ins Land holen," schreibt die Abgeordnete Veronika Honkasalo auf Twitter.

Von den NATO-Beitritten Finnlands und Schwedens geht also keine konkrete Bedrohung für Russland aus. Die beiden Länder würden mit einem Beitritt zugleich auch der NATO-Russland-Grundakte zustimmen. Umgekehrt jedoch fürchten die beiden Beitrittskandidaten nach demrussischen Angriff auf die Ukraine um ihre territoriale Unversehrtheit und begründen damit ihren Beitrittswunsch. 

 

Mehrheit der Türken gegen NATO-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands?

Behauptung: Bei dem informellen Treffen der Außenministerinnen und Außenminister der 30 NATO-Mitgliedsstaaten am 15. Mai in Berlin erklärte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu laut Berichten der halbstaatlichen Nachrichtenagentur "Anadolu", dass "ein großer Teil der türkischen Bevölkerung gegen eine NATO-Mitgliedschaft von Schweden und Finnland" ist.

DW-Faktencheck: Falsch.

Deutschland | NATO Außenministertreffen in Berlin | Mevlüt Cavusoglu
Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu spricht sich beim beim NATO-Außenministertreffen in Berlin am 15. Mai gegen einen NATO-Beitritt von Schweden und Finnland ausBild: Bernd von Jutrczenka/AP Photo/picture alliance

Nach Auskunft des türkischen Meinungsforschungsinstituts MetroPOLL gibt es bisher keine Umfragen, bei denen die türkische Bevölkerung zum NATO-Beitritt der beiden Länder befragt wurde. Nach Angaben des Meinungsforschungsinstitutes wird dieses Thema aber in den aktuellen Fragenkatalog dieser Woche aufgenommen. Die Ergebnisse sollen im Zeitraum vom 23. bis 27. Mai vorgestellt werden.

 

Panikkäufe in Finnland?

Behauptung: "Finnische Bewohner in der Nähe der russischen Grenze kaufen hastig Lebensmittel und schauen Schutzbunker an, um sich für einen potenziellen Konflikt mit Moskau zu wappnen", heißt es in einemBericht der US-amerikanischen Zeitschrift "Newsweek". Grund dafür sei, dass der Kreml Vergeltungsmaßnahmen für den NATO-Beitritt Finnlands angekündigt habe.

Faktencheck: Falsch.

Der Artikel, wonach die finnische Bevölkerung angeblich in Panik Vorräte anlegt, sorgte im Netz für Aufsehen. Viele User und auch die Stadtverwaltung von der finnischen Gemeinde Lappeenranta, die im Süden des Landes in unmittelbarer Nähe zur russischen Grenze liegt, kritisierten die Berichterstattung.

"Bei Newsweek scheinen Schlagzeile und Inhalt des Artikels nicht zusammenzupassen. Es gibt keine Panik in Lappeenranta", heißt es auf dem offiziellen Twitter-Account der Gemeinde. Andere User weisen darauf hin, dass Schutzunterkünfte regelmäßig gecheckt und sich Einwohner zum Wochenende gewohnheitsmäßig mit Nahrungsmitteln und Getränkevorräten eindecken würden. 

 

Finnland gilt beim Katastrophenschutz innerhalb der EU in vieler Hinsicht als vorbildlich. Auf demoffiziellen Webportal "72 Tuntia"  werden zum Beispiel Vorsorgeempfehlungen für Stromausfälle und andere Notfälle gegeben. Nach einer dort veröffentlichten offiziellen Umfrage haben fast eine Million Finnen im Frühjahr 2022 Vorräte mit Lebensmittel und abgefülltem Wasser zuhause angelegt- unabhängig vom Krieg in der Ukraine.