Faktencheck: Wie verlässlich ist Wikipedia?
14. Januar 2021Kann man die Qualität von Wikipedia messen?
Ältere Untersuchungen zeigten, dass sich Wikipedia in bestimmten Fachbereichen durchaus mit renommierten Enzyklopädien wie Britannica messen lassen konnte - von denen zumindest eine allerdings von der Stiftung selbst beauftragt wurde. Ein Problem bei der Qualitätsmessung ist, dass sich die Inhalte jederzeit ändern können.
Doch welches Kriterium soll man anlegen, wenn man die Qualität zwischen den Sprachen vergleichen möchte?
Teils wird die Wortzahl pro Artikel gewertet in der Annahme, längere Artikel enthalten mehr Details. Doch wie soll man Sprachen vergleichen, die nach einer ganz anderen Struktur funktionieren? Wenn ein Satz auf Deutsch aus drei oder vier Wörtern besteht, kann derselbe Satz beispielsweise auf Kisuaheli ein einziges Wort sein, da die Sprache mit Vor-, Zwischen- und Nachsilben arbeitet.
Auch die Dateigröße eines Artikels hat nur eine begrenzte Aussagekraft, wie Martin Rulsch erklärt, da manche Schriftsysteme mehr Speicherplatz benötigen als andere.
Rulsch arbeitet bei dem deutschen Ableger von Wikimedia, der Organisation, die hinter Wikipedia steckt. Darüber hinaus engagiert er sich seit mehr als 15 Jahren ehrenamtlich in verschiedenen Rollen für die Enzyklopädie.
Rulsch spricht im DW-Interview immer nur von "Indizien" für Qualität, die interpretiert werden müssen. So wird für ihn ein Artikel auch nicht unbedingt besser, wenn viele Menschen daran gearbeitet haben. Wenn ein erster Artikelentwurf bereits "ausführlich recherchiert" und gut war, würden nur kaum Änderungen und Ergänzungen nötig sein. Ohnehin kann man die Anzahl der Autoren nicht bei allen Wikipedia-Sprachversionen schnell und übersichtlich abrufen.
Kurzum, die Qualität von Wikipedia per Formel zu bestimmen, ist schwierig.
Worauf kann ich als Nutzer dann selbst bei der Qualität achten?
Ein erster Blick kann der Form gelten, empfiehlt Nenja Wolbers, die sich bei der Stiftung "Digitale Chancen" mit der Vermittlung von Medienkompetenz beschäftigt. Wenn es Probleme mit Rechtschreibung und Grammatik gibt, sollte man aufpassen.
Inhaltlich könne man sich die Frage stellen, ob der Artikel neutral und sachlich geschrieben ist, sagt Wolbers. Bezieht der Artikel nur eine klare Position oder stellt eine Meinung dar? Werde ich aufgefordert, etwas zu tun oder zu glauben? Oder ist der Artikel so geschrieben, dass er einen Überblick verschafft und unterschiedliche Perspektiven einbezieht?
Für den Glaubwürdigkeitscheck sollten Nutzer überprüfen, ob es Widersprüche gibt. Ganz wichtig sei der Quellencheck: "Das ist immer das A und O, wenn ich wissen will, ob das valide Informationen sind." Sind die Aussagen also belegt und die Quellen am Ende des Wikipedia-Artikels ordentlich aufgelistet? Woher kommen die Informationen genau? Wer steckt dahinter? "Es macht auch Sinn, da einfach mal draufzuklicken", sagt die Medienkompetenztrainerin im DW-Gespräch.
Sie selbst nutze Wikipedia gerne, um sich einen ersten kurzen Überblick zu einem Thema zu verschaffen. "Das heißt noch nicht, dass ich eine finale Antwort habe", so Wolbers. Sie empfiehlt: "Man muss als Nutzer im Hinterkopf behalten, dass Wikipedia eine Seite ist, die von sehr vielen Autoren genutzt wird und dass es möglich ist, schnell etwas zu ändern." Dann könne man mit der Enzyklopädie relativ gut umgehen.
Warum unterscheiden sich die Artikel zu ein und demselben Thema in unterschiedlichen Sprachen so stark?
Jede Sprachversion von Wikipedia ist ein eigenständiges Projekt. Das heißt, Artikel zum gleichen Thema werden in verschiedenen Sprachen von unterschiedlichen Autoren geschrieben und bearbeitet. Diese können unterschiedliche Schwerpunkte setzen.
Doch es kann auch dazu kommen, dass gerade politisch heikle Themen in verschiedenen Sprachen anders gedeutet werden. Ein Beispiel ist die Situation um die Halbinsel Krim, die Russland im März 2014 von der Ukraine annektiert hat.
Das Faktencheck-Team der DW hat die Seiten der deutschen, russischen und ukrainischen Wikipedia zur Krim überprüft. In der deutschen Version wird die Krim als "Halbinsel der Ukraine" bezeichnet. In der russischen Enzyklopädie wird sie dagegen nirgendwo "ukrainisch" genannt. An einer Stelle heißt es, die Halbinsel sei ein "Objekt des territorialen Streits zwischen Russland (…) und der Ukraine".
In den meisten Einträgen zur Krim-Krise finden sich in allen drei Sprachen die wichtigsten Fakten, die dem Wissenstand über die Krim entsprechen. Leser werden ausführlich informiert. Doch in einigen Details unterscheiden sich die Versionen signifikant. Während auf Ukrainisch ein Artikel den Titel "Annexion der Krim" trägt, lautet der damit verknüpfte russische Beitrag "Anschluss der Krim an die Russische Föderation".
In den meisten russischen Beiträgen fehlt außerdem die Einordnung, dass das Referendum von März 2014, das zur Angliederung der Krim an Russland führte, aus Sicht der Ukraine und des Völkerrechts nicht legitim war und international daher nicht anerkannt wurde.
Rulsch kennt mehrere solcher Beispiele aus seiner Arbeit wie den kürzlich wieder aufgeflammten Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach: "Den Konflikt erlebe ich in Wikipedia seit weit über zehn Jahren immer wieder. Es geht um die Ausgestaltung, war es Genozid oder nicht? Und wer hat angefangen?"
Langjährige Ehrenamtler wie Rulsch versuchen in solchen Situationen zu vermitteln. "Ich glaube, es gibt keine Wahrheit und Neutralität. Aber das Ziel von Wikipedia ist es ja, sich dem möglichst anzunähern und danach zu streben. Und wenn es nicht einen neutralen Standpunkt gibt, dann mehrere Standpunkte darzustellen", so Rulsch
Die Medienkompetenztrainerin Wolbers empfiehlt Nutzern in solch kritischen Fällen, sich mithilfe von Übersetzungstools die entsprechenden Wikipedia-Artikel in anderen Sprachen anzusehen oder nach weiteren Quellen zu suchen.
Was tut Wikipedia, um Texte vor Manipulationen zu schützen?
Immer wieder wird bekannt, dass Unternehmen oder Politiker Seiten zu ihren Gunsten verändern. So wird der Atomstrom-Lobby seit Jahren vorgeworfen, in der deutschen Wikipedia bei relevanten Artikeln Schönfärberei zu betreiben. Auch Prominente wurden verfrüht für tot erklärt wie US-Schauspielerin Lindsay Lohan.
Für neun Sprachen veröffentlicht Wikipedia eine Liste von Falschmeldungen der vergangenen Jahre. Demzufolge war auf Englisch am längsten ein Artikel über das Mustelodon, einem fiktiven ausgestorbenen Säugetier, online: 14 Jahre und 9 Monate lang.
Wikipedianer Rulsch bestätigt, grundsätzlich seien Manipulationen bei Wikipedia möglich, und zwar in jeder Hinsicht. "Je abwegiger das Thema ist, je weniger es von Menschen gesehen wird, je kleiner vielleicht auch die Sprachversion ist, umso größer ist die Möglichkeit, Manipulation zu betreiben."
Verschiedene Mechanismen sollen das verhindern. Wikipedia vertraut auf die Selbstkontrolle durch die Community. "Theoretisch könnte ich jetzt Verschwörungstheorien über die Antike verbreiten, weil da nicht so viele Leute mitlesen", sagt der studierte Philologe, "aber irgendjemandem wird es schon auffallen, wenn es eine Schnittmenge zu einem anderen Autor gibt. Und wenn das auffällt, gehen die durch meine sämtlichen Änderungen."
Rulsch hat Einblick in verschiedene Sprachversionen, da er als sogenannter Steward "kleine Wikipedias", also Sprachversionen mit weniger als 50.000 Artikeln und weniger als zehn Administratoren, organisatorisch unterstützt. Zwar haben diese oft weniger aktive Nutzer als große Sprachen, doch ist das Interesse hier zu manipulieren seiner Ansicht nach geringer, da die Reichweite auch kleiner ist.
Bei Verstößen können Administratoren Nutzern das Schreibrecht entziehen. Admins dürfen auch Artikel vor Veränderung schützen, sodass nur noch bestimmte Personengruppe an diesem Artikel arbeiten dürfen. Wie Rulsch erklärt, passiert das vor allem im Bereich Politik, Esoterik und heftig umstrittenen Themen. Auf Bosnisch ist das beispielsweise beim Artikel zum Massaker in Srebrenica so. Auf Englisch können mehrere Artikel zu Geschlechtsorganen nicht einfach so geändert werden.
In größeren Sprachversionen haben sich mehr Qualitätssicherungsmaßnahmen entwickelt, erklärt Rulsch: Bei der deutschen Wikipedia müssen Änderungen von einem sogenannten Sichter bestätigt werden, bevor sie für alle sichtbar werden. Bei der englischen Wikipedia dürfen neue Artikel nur von registrierten Benutzern angelegt werden. Teilweise unterstützen auch automatisierte Bots, die zum Beispiel vulgäre Ausdrücke erkennen können.
Ein weiteres Tool, das in allen Sprachen verfügbar ist und von jedem genutzt werden kann, ist die sogenannte transparente Versionsgeschichte. Bei jedem Artikel kann jeder Nutzer nachverfolgen, wann welche Änderungen von wem gemacht wurden.
Ist Wikipedia also eine glaubwürdige Quelle?
Viele Beiträge der freien Internet-Enzyklopädie sind gut belegt, mehrfach auf Qualität geprüft und im Gegensatz zu gebundenen Lexika in Teilen sogar tagesaktuell. Als absolut verlässliche Quelle kann Wikipedia aber auch 20 Jahre nach der Gründung nicht gelten, da Manipulationen möglich sind und nicht immer sofort entdeckt werden. Zum offenen Prinzip von Wikipedia gehört es, als Nutzer mit einem kritischen Auge zu lesen.