Meister einer besonderen Saison
16. Juni 2020Es war mit Sicherheit nicht der emotionalste Gewinn einer deutschen Meisterschaft: Die Ränge im Bremer Stadion waren wegen der Corona-Beschränkungen leer, das Spiel nur mäßig spannend, nur ganz am Ende wurde es für kurze Augenblicke noch einmal eng. Abstiegskandidat Werder Bremen wehrte sich nach Kräften und beschäftigte den Rekordmeister mehr als erwartet, doch am Ende brachten die Bayern den 1:0-Sieg in Bremen souverän über die Zeit. Beim Abpfiff ballte Trainer Hansi Flick beide Fäuste, die Spieler lagen sich kurz in den Armen. Danach wurden schnell die vorbereiteten, roten Meister-T-Shirts mit einer großen weißen "8" darauf übergestreift und mit den Offiziellen auf der Tribüne eine "La Ola"-Welle gemacht - immerhin.
Es ist der 30. Meistertitel in der Vereinsgeschichte des FC Bayern, der achte in Folge - wieder gingen die Träume der Konkurrenz nicht in Erfüllung. Nichts als Gewohnheit, könnte man meinen, doch war die Saison, die dieser Meisterschaft vorausging, beileibe keine normale Spielzeit: Trainerwechsel, das Ende der Ära Hoeneß, damit verbunden eine Neuaufstellung an der Vereinsspitze und nicht zuletzt die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie. Kurz gesagt: Es gab viele Dinge und Situationen, die beim Rekordmeister - zumal in dieser Häufung - kein Alltag sind.
Die Ära Hoeneß endet - beginnt die Ära Flick?
Die grundlegendste Veränderung war wohl der emotionale Abschied von Uli Hoeneß an der Spitze des FC Bayern im November. Nach 49 Jahren im Verein - zunächst als Spieler, dann als Manager, schließlich als Präsident - gab der langjährige Bayern-Macher sein Amt als Vereinspräsident ab und beendete eine Ära, auch wenn er bis 2023 sein Amt als Mitglied des Aufsichtsrats behalten wird. Sein Nachfolger ist Herbert Hainer, ehemaliger Vorstandsvorsitzender von Adidas und ein Freund von Hoeneß. In seiner Antrittsrede sprach Hainer zwar von "riesigen Fußstapfen", kündigte aber auch an "die Balance zwischen sportlichem Erfolg, starken Zahlen und unseren bayerischen Wurzeln" zu behalten. Der FC Bayern, so Hainer weiter, sei "kein kickender Konzern - und das darf er auch niemals werden".
Kurze Zeit nach dem Übergang von Hoeneß zu Hainer, stellte der FC Bayern auch in der sportlichen Führung die Weichen für Zukunft: Oliver Kahn, von 1994 bis 2008 Torwart des FC Bayern, wurde im Januar als neues Mitglied im Vereinsvorstand begrüßt. Der ehemalige Nationaltorhüter soll in anderthalb Jahren, ab Januar 2022, Karl-Heinz Rummenigge als Vorstandsvorsitzenden ablösen. Und obwohl Kahn seine ersten beiden Jahren im Vorstand als "Lernzeit" nutzen sollte, griff er gleich in seiner ersten Halbserie entscheidend in die Zukunftsplanung des Klubs ein. Auch weil Kahn ein Befürworter war, wurden die Verträge mit Torhüter Manuel Neuer, Thomas Müller und nicht zuletzt mit Trainer Hansi Flick verlängert. Alle drei erhielten ein neues Arbeitspapier bis Sommer 2023.
Kahn kann sich sogar vorstellen, dass Flick eine neue Bayern-Ära einläutet. "Hansi kennt die Mentalität des Vereins", sagte Kahn nach dessen Unterschrift. "Er weiß, dass der FC Bayern am maximalen Erfolg gemessen wird." Dieser maximale Erfolg schien den Vereinsbossen mit Flicks Vorgänger Niko Kovac nicht mehr erreichbar. Anfang November, nach einer heftigen 1:5-Klatsche bei Eintracht Frankfurt, trennte sich der Klub von Kovac, der zwar in der Vorsaison das Double gewonnen, scheinbar aber nie das einhundertprozentige Vertrauen der Führungsriege genossen hatte. Bei Flick war das Gefühl besser
Flicks Einstand war spektakulär: Mit 4:0 wurde Herausforderer Nummer eins, Borussia Dortmund, in die Schranken gewiesen. Zwar verlor Flick seine Bundesliga-Spiele Nummer drei und vier als Cheftrainer gegen Leverkusen und Mönchengladbach jeweils mit 1:2, doch seitdem, seit dem 7. Dezember 2019, hat der FC Bayern nicht mehr verloren. Überlegener geht es kaum.
Keine Einschränkungen durch Corona
Auch die besondere Situation der Geisterspiele nach der Corona-Zwangspause konnte den Bayern offenbar nichts anhaben. Zwar ist es statistisch schwer zu belegen, dass ohne Zuschauer im Stadion immer die Mannschaft gewinnt, die die höhere sportliche Qualität besitzt, doch bei den Bayern war es so. Der souveräne Vorsprung an der Tabellenspitze zeugt davon. Und auch finanziell gehen die Bayern als Sieger der Krise in den kommenden Transfersommer.
Anders als viele ihrer Konkurrenten - national und international - haben die Münchner bekanntermaßen ein gut gefülltes Festgeldkonto, auf dem nun die entscheidenden Millionen mehr sein könnten, als bei den Klubs, die zwingend auf TV-Einnahmen angewiesen sind, und diese in der Hoffnung auf sportlichen Erfolg oft schon Monate vor deren Überweisung verpfändet oder ausgegeben haben.
Zwar bemüht sich Karl-Heinz Rummenigge öffentlich darum, den Eindruck der "reichen Bayern" zu verwischen, wenn er behauptet: "Auch der FC Bayern steht vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen und wird den Gürtel enger schnallen müssen." Und nachschiebt: "Das Festgeldkonto ist nicht unerschöpflich." Allerdings steckt dahinter wahrscheinlich auch der Wunsch, bei anstehenden Transfers wenigstens etwas Geld zu sparen. Schließlich ist nichts schlimmer, als mit jemandem über Ablösesummen zu verhandeln, der genau weiß, wie viel man eigentlich mehr bezahlen könnte. Und fragt man bei Schalke oder anderen Bundesligaklubs nach, so ist der warnende Zeigefinger Rummenigges wohl eher ein Jammern auf ganz hohem Niveau.
Goldene Zukunft?
Um die Zukunft ihres Vereins muss den Anhängern des FC Bayern jedenfalls nicht bange sein. Die finanzielle Situation ist vorbildlich, die sportlichen Fragen sind geklärt. Der Trainer und viele Leistungsträger sind langfristig gebunden. Insgesamt, so könnte man es auf den Punkt bringen, wird das "Mia san mia" beim FC Bayern wieder groß geschrieben. Die Achse aus Manuel Neuer, Joshua Kimmich, David Alaba, Niklas Süle, Leon Goretzka, Thiago, Thomas Müller, Robert Lewandowski und sicher noch einiger anderer Spieler atmet die FC-Bayern-DNA. Dazu soll mit Leroy Sané, der momentan noch unter Ex-Bayern-Trainer Pep Guardiola für Manchester City spielt, einer der besten deutschen Angreifer verpflichtet werden. Möglicherweise schließt sich auch Kai Havertz den Münchnern an. Doch selbst wenn er es nicht tut, wird der FC Bayern auch in der nächsten Saison schwer zu schlagen sein.
Wobei die Bundesliga nach acht Titeln in Serie in der Spielzeit 2020/21 wahrscheinlich eher eine untergeordnete Rolle spielen wird. Natürlich will man in München auch ein neuntes Mal in Folge Meister werden. Noch wichtiger aber ist der Sieg in der Champions League. Der letzte liegt immerhin schon sieben Jahre zurück, und die Voraussetzungen - sportlich wie wirtschaftlich - waren selten so gut wie jetzt, um ganz Großes zu erreichen.