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Femizide: Frauen brauchen mehr Schutz vor tödlicher Gewalt

Veröffentlicht 30. Oktober 2024Zuletzt aktualisiert 19. November 2024

Fast jeden Tag wird in Deutschland eine Frau getötet, das zeigen neue Daten. Täter sind häufig die (Ex-)Partner. Diana überlebte und fand mit ihren Kindern Schutz im Frauenhaus.

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Ein Mann und zwei Frauen, BKA-Vizepräsident Michael Kretschmer und die Bundesministerinnen Lisa Paus und Nancy Faeser) halten eine Broschüre hoch, auf dem eine Frau ihre Hand abwehrend vor ihr Gesicht hält
Neue Zahlen zu Straftaten und Gewalt gegen Frauen: BKA-Vizepräsident Michael Kretschmer (v.l.n.r.), Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Grüne) und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD)Bild: Sebastian Gollnow/dpa/pictrue alliance

Jede Form von Gewalt gegen Frauen nimmt in Deutschland zu. Das erstmals erstellte Lagebild des Bundeskriminalamts (BKA) "Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten 2023" spricht von 360 getöteten Frauen - getötet aus Frauenhass, im Zuge häuslicher Gewalt oder einer Trennung. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagt dazu: "Fast jeden Tag sehen wir einen Femizid in Deutschland. Alle drei Minuten erlebt eine Frau oder ein Mädchen häusliche Gewalt." Sie betont: "Sie werden Opfer, weil sie Frauen sind. Das ist unerträglich."

Wer ist gefährlich für eine Frau? Der Fremde im dunklen Park? Tatsächlich sind es oft sehr vertraute Männer - Partner und Ex-Partner -, die misshandeln und töten. Jeden Tag versucht ein Mann in Deutschland, seine (Ex-)Partnerin zu töten, sehr oft gelingt es.

155 Frauen wurden nach Angaben des Bundeskriminalamts (BKA) im Jahr 2023 von ihren (Ex-)Lebensgefährten getötet.

Der Mann von Diana B. (Name geändert) hat ihr immer wieder gedroht, sie zu töten, berichtet sie der DW. Ihr richtiger Name und ihr Aufenthaltsort müssen geheim bleiben. Das Familiengericht hat ihrem Mann jede Annäherung verboten. Doch sie hofft, dass er sie erst gar nicht findet. Er hat sie jahrelang geschlagen, gewürgt und schließlich schwer verletzt. Weil es vorher keine Anzeige gegen ihn gab, galt er vor Gericht als Ersttäter und erhielt nur eine Bewährungsstrafe.

Ihre Rechtsanwältin Corinna Wehran-Itschert erinnert sich an ein anderes Paar mit mehreren kleinen Kindern. Trotz Kontaktverboten verfolgte der Mann mehr als zwei Jahre nach der Trennung immer wieder die junge Mutter: "Der Mann hat der Frau im Hausflur aufgelauert - und sie getötet. Das war fürchterlich."

Diana B. hat nach acht Monaten Schutz und Unterstützung im Frauenhaus Koblenz für sich und ihre Kinder ein neues Leben an einem neuen Ort aufgebaut. Sie hat überlebt - hunderte Frauen sind tot.

Blick in ein helles Treppenhaus mit bunten Blumenbildern. Zwei Frauen steigen hintereinander die Treppe hinauf
Ein sicherer Ort: Diana B. hat im Frauenhaus den Ausweg aus der häuslichen Gewalt gefunden und Hilfe bekommen für den Aufbau eines neuen Lebens mit ihren KindernBild: ANDREA GRUNAU/DW

Femizide verhindern: Anti-Gewalt-Trainings und elektronische Fußfesseln

Femizid ist in Deutschland kein eigener Straftatbestand, die Täter können wegen Mord oder Totschlag verurteilt werden. Häufig geht den Taten häusliche Gewalt voraus. "Wir brauchen mehr Härte gegen die Täter und mehr Aufmerksamkeit und Hilfe für die Opfer", sagt Innenministerin Nancy Faeser. Die Sozialdemokratin fordert: "Neben harten Strafen brauchen wir verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings und elektronische Fußfesseln, damit die Täter ihr Verhalten tatsächlich ändern und sich betroffenen Frauen nicht mehr unbemerkt nähern können."

Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Grüne) betonte schon vor Monaten: "Wir brauchen nicht nur ein Sicherheitspaket gegen terroristische Messerstecher, sondern auch für die Prävention und den Schutz von Frauen vor Gewalt."

Tanzender Protest gegen Gewalt an Frauen: "One Billion Rising" in Koblenz

Engagierte Frauen kämpfen seit langem dafür. Sie tanzen als weltweite "One-Billion-Rising-Bewegung" (14.2.), sie protestieren bei der UN-Kampagne "Orange the World"vom Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen (25.11.) bis zum Tag der Menschenrechte (10.12.).

Familienministerin Lisa Paus: "Das Gewalthilfegesetz wird Leben retten"

In einem Brandbrief an die Regierung schreiben Verbände und über 70.000 Einzelpersonen: "Sie haben im Koalitionsvertrag angekündigt, ein Gesetz zu schaffen, das Betroffene besser vor Gewalt schützt." Die Unterzeichnerinnen mahnen: "Ohne das Gewalthilfegesetz werden weiterhin Menschen sterben, werden weiterhin Menschenleben zerstört - weil ihnen der Schutz verwehrt bleibt, den sie so dringend brauchen!"

Eine Gruppe von Frauen hält ein großes weißes Transparent mit roter Schrift. Darauf steht neben Händen, die abwehrend ausgestreckt sind: "Femizide sind keine Einzelfälle"
Protest gegen einen Femizid in Hannover: Fast jeden zweiten Tag tötet in Deutschland ein Partner oder Ex-Partner eine FrauBild: Moritz Frankenberg/dpa/picture alliance

Ministerin Lisa Paus hat ein Gewalthilfegesetz erarbeitet, doch es blieb stecken in der Abstimmung zwischen den Ministerien der Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP, die zerbrochen ist. Paus sagt jetzt: "Den bedrohten, geschlagenen und um ihr Leben fürchtenden Frauen ist es vollkommen egal, wer regiert." Sie appelliert an alle demokratischen Bundestagsabgeordneten, für das vorbereitete Gesetz zu stimmen. "Das Gewalthilfegesetz wird Leben retten", betont sie und fordert den Ausbau von Beratung und Schutzeinrichtungen.

Frauenhäuser: viel zu wenig Plätze und Geld

Rund 14.000 Plätze für Frauen und Kinder in Frauenhäusern fehlen Deutschland nach der Istanbul-Konvention des Europarats zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Eine Studie ergab, dass viel zu wenig investiert wird: 300 Millionen Euro statt der empfohlenen Ausgaben für Prävention und Gewaltschutz von bis zu 1,6 Milliarden Euro pro Jahr.

Über die freiwillige Finanzierung entscheidet jedes Bundesland und jede Kommune immer neu. Das kritisiert Alexandra Neisius. Sie leitet das Frauenhaus in Koblenz, in dem Diana B. und ihre Kinder Hilfe fanden. Mit 115.000 Einwohnern bräuchte die Stadt elf bis zwölf Schutzräume. Es gibt sieben - viele Frauen müssen abgewiesen werden. Wenn sie dem Portal "Frauenhaussuche" einen freien Platz melde, sei er in ein bis zwei Stunden belegt, sagt Neisius.

Zwei Frauen sitzen sich in einem kleinen Besprechungsraum gegenüber, eine ist nur von hinten zu sehen, sie ist vor ihrem gewalttätigen Mann ins Frauenhaus geflohen
Alexandra Neisius (re.) leitet das Frauenhaus in Koblenz und berät mit ihrem Team Frauen wie Diana B., die vor der Gewalt durch ihren (Ex-)Partner geflohen sindBild: ANDREA GRUNAU/DW

Polizei: "Wir müssen handeln"

Das Koblenzer Frauenhaus hat erfolgreich Sondermittel für einen An- und Umbau beantragt. Zwei neue Familienzimmer soll es geben und ein Zimmer für Notfälle. Geld für zusätzliches Personal ist nicht bewilligt - es wird aber dringend benötigt für die sozialrechtliche und traumasensible Beratung.

Im Notzimmer sollen Polizei oder Jugendamt kurzfristig gefährdete Frauen unterbringen können. Manche Frauen rufen die Polizei, andere kommen selbst mit Kindern und Gepäck, weil sie Angst vor ihrem Partner haben, berichtet Gabriele Slabenig. Bei der Polizei Koblenz ist sie zuständig für häusliche Gewalt: "Da gibt es eine reale Bedrohung, die dahintersteht. Wir müssen handeln." Sie bearbeitet 150 bis 200 Fälle häuslicher Gewalt gegen Frauen im Jahr und überwacht Hochrisikofälle.

"Es kamen immer mehr Frauen, die gesagt haben: Ich brauche Schutz, ich kann nicht mehr nach Hause, ich werde geschlagen, ich werde mit dem Tode bedroht." Frauenhausplätze seien selten schnell oder in der Nähe verfügbar. Die Polizei Koblenz fährt manche Frauen 200 bis 300 Kilometer weit. Experten untersuchen ihre Handys, um Ortungs- und Spionagesoftware zu entfernen.

Frauen müssen Platz im Frauenhaus bezahlen

Frauenhaus-Leiterin Neisius kritisiert, dass Frauen den Aufenthalt selbst bezahlen müssen, wenn sie keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Zusammen mit einem Förderverein versucht sie, Betroffenen mit Spendengeldern zu helfen. Die bundesweite Frauenhausstatistik stellt fest, dass vor allem Frauen, die ihren Aufenthalt selbst zahlen müssen, in die Gewaltsituation zurückkehren.

Ein Entwurf für das Gewalthilfegesetz, der der DW vorliegt, spricht von einem einklagbaren "Anspruch auf Schutz und rechtliche Beratung" - kostenfrei für alle Betroffenen. Das würde Deutschland zwingen, genug Plätze zu schaffen und zu finanzieren.

Ausweg aus Angst und Gewalt

Diana B. hatte Glück im Unglück. Bei der letzten schweren Misshandlung durch ihren Mann konnte sie stark blutend in ein Geschäft fliehen, wo sich andere Männer schützend vor sie stellten. Nach Operation der Knochenbrüche im Gesicht und der Zeit im Krankenhaus bekam sie mit ihren Kindern ein Zimmer im Frauenhaus in Koblenz.

Ein Plakat zeigt ein gemaltes Haus, in dem sich viele Kinder und Frauen aufhalten. Darüber steht "Willkommen im Frauen- und Kinderschutzhaus". Neben dem Haus gibt es Zeichnungen und Texte mit Regeln für das Zusammenleben im Frauenhaus
Viele Frauen, die Schutz vor Gewalt suchen, bringen ihre Kinder mit ins Frauenhaus. Dieses Plakat im Koblenzer Frauenhaus erklärt die Regeln und AngeboteBild: ANDREA GRUNAU/DW

Die Adresse ist anonym, der Eingang wird von Kameras überwacht. Mutter und Kinder konnten nach Jahren voller Gewalt und Angst zur Ruhe kommen. Sie lächelt, als sie davon erzählt, vom Respekt, mit dem man ihr hier begegnet ist.

Ihr Mann hatte sie krankenhausreif geschlagen und immer wieder versprochen, das nie wieder zu tun. Sie wollte ihren Kindern die Familie erhalten. Das sei typisch für viele Mütter, beobachtet Alexandra Neisius.

Gewalt gegen Frauen gibt es in allen gesellschaftlichen Gruppen. Im Frauenhaus sei der Anteil an Migrantinnen höher, weil sie mehr Unterstützung brauchen, sagt Neisius: "Die haben oft keine Familie hier, die ihnen hilft, sie können die Sprache nicht gut, kennen die rechtlichen Regelungen nicht."

Auf einer Karte ist das Gesicht einer Frau zu sehen und der Hinweis auf das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen mit einer Telefonnummer. Dazu ein Text auf Englisch: "Help in cases of violence against women. We offer support in 17 foreign languages"
Das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen ist aus Deutschland rund um die Uhr erreichbar und bietet Beratung in vielen SprachenBild: ANDREA GRUNAU/DW

Eskalation der Gewalt nach der Trennung

Diana B. hatte vor der Eskalation gehofft, sich mit einer Trennung aus der Gewalt befreien zu können. Damit ihr Mann zustimmte, zog sie eine Anzeige gegen ihn zurück. Sie lebte allein mit den Kindern, doch die Gefahr war nicht vorbei, berichtet sie: Bei der Geburtstagsfeier für ihren Sohn tauchte ihr Mann auf. Er zerrte sie an den Haaren in den Keller, drohte sie zu töten, würgte sie stark. Ihre Tochter war ihnen gefolgt: "Bitte Papa, lass Mama, lass, lass, bitte lass!", weinte sie.

Als ihr Mann Diana B. wegstieß, stolperte sie nach oben, richtete ihre Haare, schminkte sich und kümmerte sich um den Kindergeburtstag für ihren Sohn. Ihre Schmerzen habe sie erst später gespürt, sagt sie. "Das sind sehr starke Frauen", betont Neisius.

Es sind Frauen in großer Gefahr. Trennung, Todesdrohung, Würgen, diese Merkmale sprächen für ein hohes Tötungsrisiko, sagt Gabriele Slabenig von der Polizei Koblenz, ebenso bestimmte Eigenschaften: "Männer, die extrem aggressiv, impulsiv sind, die kontrollierend sind, dominant, eifersüchtig."

"Bitte geht wegen der Kinder"

"Kinder, die Gewalt an der Mutter miterleben müssen, das ist wie Gewalt an den Kindern selbst", warnt Familienfachanwältin Wehran-Itschert. Eine Gefahr sei Imitation: "Entweder der Sohn fängt an zu schlagen oder sich so machomäßig zu benehmen wie der Ehemann - oder die Tochter wird Opfer."

Im Frauenhaus Koblenz werden den Kindern Gewaltfreiheit und andere Rollen vermittelt, für die Jungen kommt ein Sozialpädagoge ins Haus. Alexandra Neisius appelliert an Frauen, die wegen der Kinder beim Mann bleiben wollen: "Bitte geht wegen der Kinder."

Eine Frau, die wir nur von hinten sehen blickt von einem Balkon hinunter in einen Garten mit Spielgeräten für Kinder
Kinder leiden unter der Gewalt gegen ihre Mütter. Im Frauenhaus lernen sie, wieder unbeschwert zu spielen, sie können über ihre Erfahrungen sprechen, erleben Respekt für Frauen und einen gewaltfreien UmgangBild: ANDREA GRUNAU/DW

Diana B. will ihren Mann nie mehr sehen. Sie zeigt ein Foto von ihrem Gesicht nach der schweren Verletzung. Es sei falsch gewesen, für die Kinder bei ihrem Mann zu bleiben: "Wenn es mir nicht gut geht, geht es meinen Kindern auch nicht gut." Ihrer Tochter hat sie eingeschärft, dass sie einen Mann, der sie nicht respektiert oder sogar schlägt, sofort verlassen soll.

Auf Besserung beim gewalttätigen Mann zu hoffen, sei nicht der richtige Weg, bestätigt Frauenhaus-Leiterin Neisius: "Es hört nicht von selbst auf."

Dieser Artikel erschien zuerst am 30.10.2024 und wurde am 19.11.2024 aktualisiert nach der Vorstellung des neuen Lagebilds des Bundeskriminalamts (BKA): "Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten 2023". 

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