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"Das ist ein Genozid"

Peter Hille6. August 2015

Wieder einmal sind Schiffe mit Toten in Palermo eingetroffen. Bürgermeister der Stadt ist der legendäre Leoluca Orlando. Im DW-Interview macht er der Europäischen Union wegen der Flüchtlingskatastrophe schwere Vorwürfe.

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Särge mit Leichnamen von Flüchtlingen werden in den Hafen von Palermo gebracht (Foto: REUTERS/Guglielmo Mangiapane)
Bild: Reuters/G. Mangiapane

DW: Herr Bürgermeister Orlando, wie viele Leichname von Flüchtlingen mussten Sie im Hafen von Palermo an diesem Donnerstag in Empfang nehmen?

Leoluca Orlando: Wir mussten Särge für 25 Tote bereitstellen. Darunter waren drei Kleinkinder, die nicht viel älter als ein Jahr waren. Das ist eine Tragödie. Nein, das ist mehr als eine Tragödie, das ist ein Genozid.

Leoluca Orlando, Bürgermeister Palermos (Foto: MARCELLO PATERNOSTRO/AFP/Getty Images)
Leoluca Orlando, legendärer Kämpfer gegen die Mafia und Bürgermeister von PalermoBild: Getty Images/AFP/M. Paternostro

Genozid ist ein sehr starkes Wort. Europa begeht Ihrer Meinung nach also einen Massenmord, einen Völkermord an Syrern, Eritreern, Afghanen?

Wenn ganz Europa sehen würde, was in Palermo passiert, dann müsste sich ganz Europa schämen. Die Flüchtlinge kommen aus allen möglichen Ländern, auch aus Bangladesch. Sie haben eine lange Reise hinter sich, zunächst nach Libyen, um Europa dann übers Meer zu erreichen. Europa muss sich verantwortlich zeigen für den Genozid an diesen Menschen. Die EU verstößt gegen die Grundsätze, auf denen diese Union aufgebaut wurde. Es ist eine große Schande, dass Europa nicht versteht, dass Migration nicht mit dem Tod bestraft werden sollte. Wir haben im Stadtrat erst im Frühjahr die Palermo-Charta 2015 verabschiedet. Für uns ist Mobilität ein Menschenrecht. Wir sprechen uns dafür aus, Aufenthaltsgenehmigungen abzuschaffen. Jeder Italiener, Brite oder Deutsche kann nach Bangladesch fahren. Für einen Flüchtling aus Bangladesch jedoch kann das europäische Einreiserecht eine Todesstrafe sein.

Was passiert mit den Überlebenden, die heute in Ihrer Stadt eingetroffen sind?

In unserem Hafen herrscht die Mitmenschlichkeit. Es gibt hier Hilfsorganisationen, die die Überlebenden versorgen. Wir haben heute fast 300 Überlebende begrüßt. Die Angehörigen der Toten werden sicher erst einmal hier bleiben, um in der Nähe ihrer Lieben zu trauern. Andere werden weiterreisen nach Norden.

Ist Ihre Stadt nicht überfordert angesichts der vielen Boote, die kommen?

Ja, die Lager sind voll, aber wir sind trotzdem immer wieder bereit, diese Menschen Willkommen zu heißen. Bei uns gibt es keine Zelte für Migranten. Nach ihrem Trauma brauchen sie feste Häuser. Das ist ein Menschenrecht, zumindest bei uns in Palermo, auf Sizilien.

Heute waren die Kameras in ihrer Stadt. Wird Europa schon morgen wieder vergessen, was im Süden des Kontinents passiert?

Diese Logik der Medien können wir nicht akzeptieren. Heute sind 25 Leichname nach Palermo gebracht worden, über die berichtet wird. Aber es gibt jeden Monat hunderte Tote, über die niemand spricht.

Was fordern Sie von Brüssel?

Brüssel soll sich einfach nur daran erinnern, dass die Europäische Union ohne Menschenrechte keinen Sinn mehr macht.

Leoluca Orlando ist seit 1985 mit mehreren Unterbrechungen Bürgermeister von Palermo auf Sizilien. Er gilt als der Rathauschef, der die Stadt weitgehend von der Mafia befreit hat.

Das Interview führte Peter Hille.