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"Fleisch ist keine Privatsache mehr!"

Neil King | Gabriel Borrud
6. November 2020

Beim Thema Fleisch scheiden sich die Geister. Wieso ist unser Fleischkonsum ein solches Reizthema? Und wieviel Gender steckt in der Debatte? Die Soziologin Jana Rückert-John im DW-Interview.

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Ausgweidete Schweine hängen in einem Schlachthof Fleischindustrie
Bild: picture-alliance/dpa/M. Assanimoghaddam

Jana Rückert-John ist Professorin für "Soziologie des Essens" an der Hochschule Fulda. Sie erforscht unter anderem, wie wir als Menschen essen und welchen Stellenwert bestimmte Lebensmittel in der Gesellschaft haben.

DW: Es gibt viele gute Gründe - vor allem für die Umwelt - weniger Fleisch zu essen. Warum fällt uns das als Gesellschaft dennoch so schwer?

Rückert-John: Weil Fleisch ein Nahrungsmittel ist, das ein hohes Prestige hat. Historisch wurde es stets mit Macht, Stärke und Potenz assoziiert. Es war immer ein sehr wertvolles Lebensmittel. Es ist sehr zentral beim Essen. Der ganze Teller wird um das Fleisch herum arrangiert. Es ist tief in unserer Kulturgeschichte verankert. Früher gab es Fleisch oft nur sonntags, heute ist es in rauen Mengen zu Dumpingpreisen verfügbar. Für viele - und auch bestimmte Milieus und Altersgruppen - ist es sehr zentral und sehr wichtig, Fleisch zu essen. Wenn man sich das sommerliche Grillen hierzulande anschaut, wird zudem klar, dass der Umgang mit dem offenen Feuer eine ganz starke Allianz mit dem Männlichen hat.

Eine Gruppe junger Männer auf Vatertagstour stehen vor einem Grill mit Fleisch
Laut einer Statista Umfrage besitzen etwa 90 Prozent der Deutschen einen eigenen GrillBild: picture-alliance/dpa/H. Dittrich
Bratwürste auf dem Grill
Bild: picture-alliance/dpa/M. Schutt

Wie zeigt sich diese männliche Komponente?

Eine These besagt, dass die Einverleibung des getöteten Tieres dem Mann Kraft verleiht. Dies kann bis in die Steinzeit zurückverfolgt werden. Es gibt archäologische Befunde, aus denen gefolgert wird, dass das Jagen eine vorrangig männliche Tätigkeit war. Teilweise fließt dieses Denken heute noch ein, unter anderem in der Werbung für Fleischprodukte. Das startet schon in der Pubertät, wenn Jugendliche ihre Männlichkeit auch über ihren Fleischkonsum definieren. Bei Mädchen ist es stattdessen häufig die erste Diät, mit der Weiblichkeit angezeigt wird.

Gibt es weitere Gender Unterschiede beim Thema Fleisch?

Soziologin Jana Rückert-John
Jana Rückert-John forscht über die Soziologie des Fleischessens Bild: Hochschule Fulda

Frauen essen öfter weißes Fleisch, weil z.B. Hühnchen als gesünder im Vergleich zu rotem Fleisch gilt. Letzteres ist dann auch eher männlich belegt. Frauen gehen oft anders mit ihrer Gesundheit und ihrem Körper um als Männer. Sie gehen auch öfter zum Arzt. In der Körpersoziologie ist der Umgang mit dem Körper bei den Frauen prekärer als bei Männern. Das weibliche Geschlecht gilt daher als gefährdet. Es muss behütet und umsorgt werden.

Sind deshalb auch die Mehrzahl der Vegetarier weiblich?

Etwa 80 Prozent aller Veganer und Vegetarier sind weiblich. Statistiken zeigen, dass die meisten jung und gut gebildet sind. Es gibt aber auch einen männlichen Anteil. Interessant ist, wenn man sich die Motive für eine vegetarische Lebensweise anschaut. Bei Frauen spielen ethische Gründe sowie Gesundheits- und Umweltaspekte eine große Rolle. Bei den Männern überwiegen die Motive Gesundheit und körperliche Fitness.

Viele Männer stehen Vegetarismus desinteressiert bis kritisch gegenüber. Einige männliche Fleischesser fühlen sich sogar angegriffen, wenn zum Beispiel ein "Veggie-Day" in den Raum gestellt wird. Wieso kochen die Emotionen bei diesem Thema so hoch? 

Ernährung gilt als eine der letzten Hochburgen des Privaten, wo keiner reinzureden hat. Und das kulminiert sozusagen im Fleisch, da es mit vielen Eigenschaften belegt ist und als Wohlstandsindikator gilt. Aus meiner Sicht ist es aber ein Erfolg, dass es so einen Aufschrei gibt und das Fleischesser sich heute rechtfertigen müssen. Fleischkonsum ist keine Privatsache mehr, weil es die Umwelt beeinträchtigt und viele Ressourcen verbraucht und zwar auf Kosten des Globalen Südens.

Fleisch in Plastik verpackt mit Preisschild
Laut einer Greenpeace Untersuchung verkaufen deutsche Supermärkte zu 88 Prozent BilligfleischBild: picture-alliance/dpa/R. Vennenbernd
Hähnchenschenkel und Hähnchenflügel in Plastik verpackt im Supermarkt
Bild: picture-alliance/imageBroker/M. Bail

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In deutschen Supermärkten wird Fleisch mittlerweile zu Dumpingpreisen verkauft. Muss Fleisch teurer werden, oder wäre das ungerecht gegenüber den Menschen mit weniger Einkommen?

Das ist eine schwierige Diskussion. Aus soziologischer Sicht ist es natürlich immer eine soziale Ungleichheit, die man damit erzeugt. Doch wenn man sich anschaut, dass wir heute in Deutschland im Schnitt 13 Prozent des Haushalt Netto-Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben - in der Nachkriegszeit in den fünfziger Jahren waren wir noch bei knapp 44 Prozent -  dann sehen wir einen deutlichen Rückgang der Ausgaben generell für Lebensmittel.

MADE - Der Preis des Fleisches

Und damit ist natürlich auch ein Verlust der Wertschätzung einhergegangen. Was ist uns Ernährung eigentlich heute noch wert? Im Jahr 2009 während der Finanzkrise wurden deutsche Haushalte befragt, wo sie noch Einsparpotenzial sehen. Und Nahrungsmittel wurden immer an oberster Stelle genannt. Ich denke, dass wir zu der alten Wertschätzung zurückkommen müssen, selbst wenn dies Mehrausgaben bedeutet.

Gibt es weitere Stellschrauben, um sich vom Billigfleisch zu lösen?

In der Ernährungsforschung hat man lange Zeit versucht, dem Einzelnen die Verantwortung zuzuweisen. Ich finde es ist ein schwieriger Ansatz zu sagen: "Ihr als einzelne Konsumenten habt die Verantwortung mit eurem Einkaufskorb. Wenn ihr anders nachfragt, dann ändert sich auch das Angebot." Ich glaube das greift zu kurz, weil jeder Konsument permanent mit diesem riesigen Angebot konfrontiert wird. Und das Individuum soll sich permanent dagegen wehren und sich sagen: "Nein, das ist nicht richtig, weil es schlecht für die Umwelt ist."

Ich glaube, dass es zu wenig ist, wenn man nur beim Individuum ansetzt, bei der sogenannten Verhaltensprävention. Viel wichtiger erscheint es mir auch aus soziologischer Sicht an die Strukturen heranzugehen. Ich will das Individuum aber auch nicht freisprechen. Wir sollten als verantwortungsvolle Konsumenten auftreten. Aber wir brauchen eine Ernährungs-Politik, die entsprechende Angebote auch fördert. Wenn mir das im Alltag erschwert - anstatt erleichtert - wird, dann läuft da einiges schief.

Das Interview wurde von Neil King und Gabriel Borrud geführt und zur besseren Lesbarkeit leicht gestrafft.