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Warum Syrer fliehen

Richard A. Fuchs, Berlin 7. Oktober 2015

Zehntausende Syrer sind in den vergangenen Wochen nach Deutschland geflohen. Sie kamen entweder übers Mittelmeer oder über den Balkan. Warum sie flohen und was sie antreibt, das zeigt eine Befragung unter Flüchtlingen.

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Anti-Assad-Kämpfer in der ostsyrischen Stadt Deir ez-Zor Foto: AHMAD ABOUD/AFP/Getty Images) (Foto: AFP)
Eine Gruppe von Anti-Assad-Kämpfern in Deir ez-Zor im Osten SyriensBild: Getty Images/AFP/A. Aboud

Mandalkassar bittet um Verständnis, dass sie ihren ganzen Namen nicht preis geben will. Zu groß ist die Angst der 30-jährigen Syrerin, ihre Eltern, die zurückblieben zu gefährden. Wenige Tage ist es her, dass Mandalkassar zusammen mit ihren vier Kindern, ihrem Mann und ihrem 15-jährigen Bruder nach Berlin floh. Von Syrien über die Türkei, über den Balkan nach Berlin. Jetzt steht sie in der Registrierungsstelle für Flüchtlinge im Stadtteil Berlin-Moabit und schaut auf ihre vier Kinder, die in einem offenen, weißen Sanitätszelt spielen. Die Kinder sitzen auf alten Teppichfetzen auf dem Boden, wirbeln Handpuppen vor ihren Gesichtern umher und wirken fröhlich. "Sie haben viel mitgemacht", sagt Mandalkassar nachdenklich und erzählt, dass sie auf der Flucht für ihre zweijährigen Zwillingsjungs über einen Monat keine Milchfläschchen mehr hatte. Aber auch in ihrer Heimatstadt, Deir ez-Zor im Osten Syriens, sei das Leben die Hölle gewesen. "Es gab keine Sekunde, in der wir keine Angst mehr hatten". Dabei sei es egal gewesen, ob der Beschuss von Assad-treuen Kämpfern oder von der Terrormiliz "Islamischer Staat" gekommen sei. Die Augen fest auf ihre Kinder im Sanitätszelt gerichtet sagt sie: "Ich will, dass sie wirklich leben können."

Die Angst vor der Fassbombe

Leben, vor allem Überleben: In einer jetzt veröffentlichten Befragung unter syrischen Flüchtlingen in Deutschland wird dieser Wunsch von den meisten als Hauptfluchtursache genannt, sagt Elias Perabo. Er ist Mitbegründer der deutsch-syrischen Menschenrechtsgruppe "Adopt a revolution", die die nicht-repräsentative Umfrage finanziert und mit wissenschaftlicher Unterstützung umgesetzt hat. "Zwei Drittel der Befragten gaben an, vor Krieg und Gewalt zu fliehen", sagt Perabo. Befragt wurden rund 900 syrische Flüchtlinge, die vor Flüchtlingsheimen und Registrierungsstellen in fünf deutschen Städten interviewt wurden. Andere Fluchtursachen, wie der Wunsch nach Wohlstand und die Zusammenführung von Familien, spielten in den gemachten Aussagen eine untergeordnete Rolle. Besonders eindeutig das Stimmungsbild, wem die befragten Flüchtlinge die Schuld an Krieg und Gewalt geben. "Rund 70 Prozent der Befragten gaben an, wegen des Regimes von Bashar al-Assad geflohen zu sein", sagt Perabo. Für ihn ein erstaunliches Ergebnis. Denn gerade in Deutschland herrsche das Bild vor, insbesondere die Terrormiliz "Islamischer Staat" sei für die massenhafte Flucht aus Syrien verantwortlich. "Der Kampf gegen den Terror des IS löst das Problem nicht", das ist für die Studienmacher eine zentrale Botschaft, die Deutschlands Diplomatie im Blick behalten solle.

Für Haid Haid, syrischer Menschenrechtsaktivist und Sprecher der Kampagne "Planet Syria", hat die Angst vor dem Assad-Regime auch einen konkreten Namen: Fassbomben. Also jene Fässer, die mit Sprengkörpern und Metallteilen gefüllt, von Hubschraubern der syrischen Armee über Städten und Dörfern abgeworfen werden und dort ganze Stadtteile verwüsten. Haid, dessen Eltern noch immer in Syrien leben, hat diese Angst bei seinem jüngsten Syrienbesuch am eigenen Leib gespürt: "In den zehn Tagen, in denen ich da war, hatte ich immer eine einzige Frage im Kopf: Was mache ich, wenn die nächste Fassbombe kommt?"

Mann geht durch die straßen der zerstörten syrischen Stadt Deir ez Zor (Foto: AFP)
Rückblick auf ein zerstörtes Leben: Ein Mann läuft durch die Straßen von Deir ez-Zor. Früher war es auch die Heimat von Mandalkassar.Bild: Getty Images/AFP/A. Aboud
Vier Flüchtlingskinder (Foto: DW. R.Fuchs)
Bild ohne Eltern: Diese vier Kinder sind mit ihrer Mutter Mandalkassar geflohen. Aus Angst um Angehörige zeigt sich die Mutter nicht.Bild: DW/R. Fuchs

Rückkehr nur in Frieden – und ohne Assad

Gewalt spielt bei der Entscheidung für die Flucht demnach eine Schlüsselrolle. Und auch die Frage, ob eine Rückkehr nach Syrien möglich scheint, wird dahingehend beurteilt. Zwei Drittel der Befragten schließen aus, nach Syrien zurückzukehren, so lange dort weiter Krieg herrscht. Rund die Hälfte der Befragten sieht keine Möglichkeit zur Rückkehr, so lange Assad oder der IS dort regieren. Dass ausgerechnet im Jahr 2015 so viele Syrer kamen, erstaunt Aktivist Haid Haid unterdessen nicht. "Die Menschen verlassen ihre Heimat jetzt, nach vier Jahren Bürgerkrieg, weil sie die Hoffnung aufgegeben haben, dass es in Syrien noch eine Zukunft geben könnte" Haid arbeitete bis in diesem Jahr für die grüne Heinrich-Böll-Stiftung im Regionalbüro Beirut und leitete auch Flüchtlingsprojekte.

Gefragt, ob es politische Handlungsmöglichkeiten gibt, sieht die Mehrheit der Befragten vor allem eine Lösung: die Einrichtung einer Flugverbotszone, um so dem Fassbomben-Terror des Assad-Regimes Einhalt zu gebieten. Rund 60 Prozent der Interviewten sprechen sich für ein entschiedenes Eingreifen der internationalen Gemeinschaft aus. Und auch Haid Haid würde das als einen "ersten, positiven Schritt" sehen. Zudem fordern viele den Stopp jeglicher Waffenlieferungen, ebenso wie mehr humanitäre Hilfe. Heiko Giebler, der als wissenschaftlicher Mentor des "Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB)" die Befragung begleitet hat, hält die Ergebnisse für valide. "Nicht die Prozentzahlen interessieren hier, sondern die klaren Tendenzen". Dass die Mehrheit der Befragten angab, männlich und im Alter zwischen 16 und 25 Jahren zu sein, entspräche dabei der öffentlichen Wahrnehmung, dass besonders die Gruppe der jungen Männer hierher geflohen seien.

Mandalkassar hat es mit ihrer ganzen Familie geschafft. Ob Berlin ihre neue Heimat wird, das kann sie derzeit noch nicht sagen. An eine Rückkehr nach Syrien denkt sie in jedem Fall aber nicht. "Ich will nicht sagen, dass es unmöglich ist, aber: es wäre sehr, sehr schwer."