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"Über Ägypten noch gefährlicher als über Libyen"

Azeb Tadesse Hahn / jh19. April 2016

Wieder sollen im Mittelmeer viele Flüchtlinge aus Afrika ertrunken sein. Die Eritreerin Meron Estefanos kennt die Routen der Verzweifelten. Im DW-Interview sagt sie: Es werden noch viel mehr Menschen fliehen.

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Die Italienische Küstenwache bei der Rettung afrikanischer Flüchtlinge, die auf einem Boot übers Mittelmeer wollen (Foto: picture alliance/ROPI)
Flüchtlinge aus Afrika werden im November 2015 von der italienischen Küstenwache gerettetBild: picture alliance/ROPI

DW: Wieder gibt es Berichte über eine Tragödie im Mittelmeer. Hunderte Flüchtlinge sollen dabei Anfang der Woche ums Leben gekommen sein. Sie haben Kontakt zu vielen Afrikanern, die sich auf den gefährlichen Weg gemacht haben oder machen wollen, und auch zu ihren Familien. Wissen Sie, was genau passiert ist?

Meron Estefanos: Ich versuche, es herauszufinden, aber noch kann ich nicht sagen, wer die Opfer sind. Normalerweise brauchen wir drei bis vier Tage, weil uns bis dahin die Familien der Flüchtlinge anrufen, weil sie sich Sorgen machen. Aber noch kann ich nichts bestätigen. Die Medien sind immer sehr schnell mit ihren Berichten, aber meistens liegen sie auch falsch. Dann sagen sie zum Beispiel gleich am Anfang: Es waren Somalier, Äthiopier, Eritreer - aber das sind dann Falschmeldungen. Drei oder vier Tage später wissen wir dann, was wirklich passiert ist. Nehmen wir zum Beispiel den 3. Oktober 2013: Damals ist ein Boot, das in Libyen abgelegt hatte, kurz vor Lampedusa gekentert. Zuerst hieß es: Die Toten sind allesamt Somalier. Tatsächlich aber waren es 360 Eritreer und acht Äthiopier. Es war kein einziger Somalier an Bord.

Jetzt, wo die Balkanroute geschlossen ist, suchen viele Flüchtlinge nach neuen Wegen Richtung Europa. Fast 6000 Menschen sind allein vergangene Woche von Libyen aus nach Italien geflohen und es gibt Berichte, dass weitere 300.000 Menschen in Libyen auf ihre Chance warten…

Ja, es sind jetzt sehr viele Migranten in Libyen und viele versuchen über den Sudan dorthin zu kommen. Aber mehr und mehr Menschen starten jetzt in Ägypten. Von Alexandria aus nehmen sie die Boote nach Italien. Etwa 1000 Flüchtlinge wurden von der Terrormiliz IS entführt, also versuchen viele, Libyen zu meiden. Deshalb wird die neue Route über Ägypten immer beliebter.

Können Sie uns mehr sagen über die neue Route, die durch Ägypten führt? Wie gefährlich ist sie für die Flüchtlinge?

Wenn man von Libyen aus nach Italien übersetzt, dann wird man in der Regel nach zehn Stunden gerettet. Das Problem ist eher, wie man an die libysche Küste kommt: Denn da sind die Terroristen vom IS, da sind kriminelle Banden aus dem Tschad, die Eritreer und Äthiopier entführen, um Lösegeld zu erpressen - deshalb ist die Libyen-Route so gefährlich. Wenn man aber den Weg über Alexandria nehmen will, dann dauert das schon mal 13 Tage, und das kann sogar noch gefährlicher sein als der Weg über Libyen.

Die Leute nehmen die Ägypten-Route, weil sie denken, dass sie dann nicht entführt werden. Aber das stimmt nicht. Dort werden sie auch Opfer von Menschenschmugglern. Da zahlen sie zum Beispiel 3500 US-Dollar für die Flucht und werden dann, sobald sie in Alexandria ankommen, in ein Haus verschleppt und dort heißt dann plötzlich: Sie müssen noch 10.000 US-Dollar drauflegen. Das alles ist nichts Neues, das hat schon vor drei Jahren angefangen.

Das Foto zeigt Meron Estefanos, die Flüchtlingen und ihren Familien Unterstützung bietet (Foto: DW)
Meron Estefanos unterstützt Flüchtlinge und verhandelt im Extremfall sogar mit EntführernBild: DW

Und genau deshalb versuche ich die Leute aufzuklären: Egal welche Route man nimmt, es ist gefährlich. Es gibt legale Wege nach Europa, über das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nation zum Beispiel. Aber natürlich dauert so eine legale Umsiedlung sehr lange, dafür haben die meisten keine Geduld. Also riskieren sie es und sterben. Manche Boote verschwinden ja auch einfach, nachdem sie in Libyen abgelegt haben. Wir erfahren nicht, on diese Menschen es geschafft haben oder nicht. Für die Familien ist das ein Alptraum. Mit manchen telefoniere ich täglich, und das schon seit Jahren. Es gibt Leute, die sind 2007 verschwunden und bis heute wissen wir nicht, ob sie noch am Leben sind. Für ihre Familien ist das unvorstellbar schwierig.

Gehen Sie davon aus, dass die Anzahl der Menschen, die versuchen über Ägypten nach Europa zu kommen, steigen wird?

Die Saison hat gerade erst begonnen. Das ist jedes Jahr so im April. Vielleicht erinnern Sie sich an den 17. April 2015: Fast 800 Menschen sind ertrunken, etwa 300 waren wohl Eritreer. Dieses Jahr wird es nicht viel anders sein. Das Problem ist doch: Die Leute hören einfach nicht auf Ratschläge. In meiner Radiosendung zum Beispiel warne ich immer wieder: "Bleibt, wo ihr seid. Egal ob ihr in Äthiopien seid oder Eritrea - bleibt dort. Es lohnt sich nicht, die Grenzen in Europa sind dicht, ihr werdet in Italien stranden." Gerade Äthiopier haben keinen Anspruch auf Asyl dort. Italien wird sie auf Dauer nicht aufnehmen. Ich sage also: "Wenn ihr sowieso wieder abgeschoben werdet, warum riskiert ihr euer Leben? Ihr werdet sterben, in der Wüste oder im Meer."

Unternimmt die ägyptische Regierung denn genug gegen den Menschenschmuggel in und um Alexandria?

Zumindest nehmen sie immer wieder Flüchtlinge fest, die versuchen sich dort in die Boote zu setzen. Die Leute rufen mich dann aus dem Gefängnis an. Dann werden sie dorthin zurückgeschickt, wo sie herkamen. Das passiert jede Woche, ich bekomme sehr viele Anrufe. Aber ist die Zahl derer, die fliehen, ist größer als die Zahl der Festgenommenen. Wenn das System korrupt ist, wird es immer einen Weg geben. Wie in Libyen: Dort heißt es immer, sie versuchen die Schmuggler zu stoppen, aber die Behörden sind selbst korrupt und lassen sich von den Flüchtlingen bezahlen. Anders wäre es gar nicht möglich so viele Menschen aus dem Land zu schmuggeln. So funktioniert das System dort.

Meron Estefanos ist Aktivistin und Journalisten aus Eritrea. Sie lebt inzwischen in Stockholm, Schweden. Seit Jahren kämpft sie für die Rechte von Flüchtlingen aus Afrika. Estfanos hat die Organisation "International Commission on Eritrean Refugees" mitgegründet, die sich speziell für eritreische Flüchtlinge, Opfer von Menschenhandel und Folter einsetzt.

Das Interview führte Azeb Tadesse Hahn.