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Politik

"Die Ungleichheit steigt"

Nina Haase | Sumi Somaskanda
15. Juli 2017

Frank Nullmeier ist Professor am Socium, dem Bremer Forschungszentrum für Ungleichheit und Sozialpolitik. Er analysiert die Folgen der zunehmenden Ungleichheit. Wir haben mit ihm über Armut in Deutschland gesprochen.

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Armut in Deutschland
Bild: picture alliance/dpa/R. Vennenbernd

Deutsche Welle: Was ist Ungleichheit in Deutschland?

Frank Nullmeier: Zunächst einmal ist die Einkommensungleichheit der klassische Indikator: Auf der einen Seite gibt es sehr einkommensreiche, auf der anderen Seite sehr einkommensarme Menschen. Die Arbeitsmarktsituation hat sich deutlich verändert durch den Prozess der Deindustrialisierung - nicht nur in Deutschland. Deutschland betrifft es sogar am wenigsten innerhalb der Länder Europas. Aber die Tendenz erfasst alle entwickelten Länder. Dadurch entwickeln sich einige wenige sehr hochqualifizierte oder sehr hoch bezahlte Arbeitsplätze und auf der anderen Seite gibt es viele Personen, die entweder keine oder nur schlecht bezahlte Arbeit haben.

Was waren Meilensteine in dieser Entwicklung?

In den 70er und 80er Jahren gab es einen Deindustrialisierungsschub - mit dem Untergang der Steinkohle, der Werften und anderer Industrien, zum Beispiel in der Textilbranche. Da gab es Abwanderung oder technologischen Wandel, der das verändert hat. In den 90er Jahren gab es eine große Welle der Frühverrentung. Die Industrie-Betriebe haben ihre Struktur grundlegend verändert. Der Dienstleistungssektor wuchs. Gleichzeitig gab es eine politische Förderung des Niedriglohnsektors: Einführung von Minijobs und anderer Formen von Befristung, die geholfen haben, einen relativ großen Sektor zu schaffen, in dem nicht sehr viel verdient wird. In dem Sektor der Minijobs sind sehr viele Frauen. Wir haben also zwar die Frauen-Erwerbstätigkeitsquote gesteigert, aber die Löhne, die man in diesen Jobs erwerben kann, sind relativ niedrig. Durch diese Sozialpolitik wurde nicht unsere Gleichheit, sondern die Ungleichheit erhöht. Das ist der Effekt der Sozialpolitik der 90er Jahre und den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende.

Porträt - Prof. Dr. Frank Nullmeier
Prof. Frank NullmeierBild: privat

Da sprechen wir von den Hartz IV-Reformen, der Agenda 2010. Die SPD hat diese Schritte immer verteidigt, weil damals Deutschland der "kranke Mann Europas”  war: Es sei nicht anders gegangen. Wie schätzen Sie das heute ein?

Damals war das eine von fast allen Experten geteilte Grundmeinung, dass man einen solchen Niedriglohnsektor schaffen müsse, um aus dieser Situation zunehmender Deindustrialisierung und Verkleinerung dessen, was früher Arbeiterschicht oder Arbeiterklasse hieß, herauszukommen. Heute sehen wir das offener. Die Wissenschaft streitet sich darüber, ob diese Hartz-Reformen wirklich beigetragen haben zu der jetzigen Situation. Was keiner bestreiten kann, ist, dass sie jedenfalls nicht zur Beförderung von Gleichheit beigetragen haben. Wirtschaftlich ist Deutschland auf die Füße gekommen, aber die Ungleichheit ist gesteigert worden. Und auf dem Niveau verharrt es jetzt.

Sie sagen, die Ungleichheit steigt. Wie sieht diese Ungleichheit in Deutschland aus? Wir sprechen ja von relativer Armut. Wo fängt die Armut an?

Zunächst einmal: Die Ungleichheit ist weltweit gesunken in den letzten Jahren. Die Unterschiede zwischen den Nationen sind zurückgegangen, weil in Asien einige Länder einen stabilen langen Wirtschaftsprozess auf den Weg gebracht haben und viele Leute in die Mittelschicht aufgestiegen sind. Ebenso in Lateinamerika, im verringerten Maße auch in Afrika. Innerhalb dieser Länder sind aber die Ungleichheiten gewachsen. Weltweit bezieht sich die Armutsdefinition darauf, wieviel US-Dollar jede Person am Tag zur Verfügung hat. Für die innerstaatliche Armut rechnet man mit relativen Armutsgrößen: also dem Existenzminimum. Was braucht man, um einen angemessenen soziokulturellen Standard eines dem Land entsprechenden Niveau zu erreichen? Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat noch ein lebensweltliches Kriterium mit hineingebracht: Was können sich Leute wirklich leisten? Wann wird es für sie richtig hart? Das heißt nicht gleich unter der Brücke schlafen. Aber: Wann können sie sich bestimmte Dinge nicht mehr leisten? Eines der höchsten Armutsrisiken ist alleinverdienende Person mit einem oder mehreren Kindern zu sein.

Abgesehen von Alleinerziehenden - welche anderen Gruppen sind von Armut und Ungleichheit besonders betroffen?

Personen mit nicht stabilen Erwerbskarrieren. Wenn wir sie gesondert zählen, sind das vor allem Kinder, die aufwachsen in Familien mit Hartz IV-Bezug oder niedrigem Einkommen. Kinderarmut ist eine große Schwierigkeit für Deutschland: dass die nachwachsende Generation in sehr erheblichem Maße in Armutssituationen aufwächst. Die ältere Generation über 65 Jahre kennt momentan noch kaum Armut. Aber auf Grund der sich verschlechternden Erwerbskarrieren bei vielen Personen und den niedrigen Löhnen in bestimmten Bereichen wird sich auch diese Altersarmut deutlich erhöhen.

Wie sieht es mit Vermögensungleichheit aus?

Die ist noch viel stärker gestiegen als die Einkommensungleichheit. Diese Ausmaße sind kaum mehr rückholbar. Wir setzen einen kumulativen Prozess in Gang, wo die Unterschiede automatisch immer größer werden. Wenn es nicht Prozesse der Vermögensvernichtung gibt - und das sind eigentlich immer unschöne Situationen wie Krieg, Inflation oder eine ganz große Finanzkrise, die auch alle anderen in Mitleiden zieht - dann bleibt es bei dieser Vermögensungleichheit. In Europa merkt man das noch nicht so stark. Aber in den USA hängt die Parteienfinanzierung oder die Finanzierung der Kandidaten alleine am Geld. Der Vermögensunterschied schlägt sich dort also deutlich nieder und zerstört von innen heraus demokratisches Leben, das darauf basiert, dass jeder Mensch eine Stimme hat und nicht eine Stimme mal eine Million.

Wird diese Ungleichheit wahrgenommen? Und: Ist die Ungleichheit in Deutschland ungerecht oder gerecht?

Auch dieses ist im Armuts- und Reichtumsbericht gefragt worden. Es gibt eine Tendenz, die Ungleichheit zu überschätzen. Die Bevölkerung glaubt, dass das Armutsproblem etwas größer sei. Auf der anderen Seite wird aber eine solche Ungleichheitssituation doch als sehr ungerecht angesehen. Es gibt auch einen Grundimpuls, gerechte Verhältnisse, also nicht so ungerechte Verhältnisse schaffen zu wollen. Das ist vorhanden. Von daher ist das Wort Gerechtigkeit in deutschen Wahlkämpfen schon ein Wort, das eine große Bedeutung hat. Es muss aber nicht eine wahlentscheidende Bedeutung haben, wenn andere Themen wie Sicherheitsfragen sich in den Vordergrund schieben. Aber es gibt keine Möglichkeit, in Deutschland Wahlkampf zu machen mit einem Slogan, der sagt, das Thema Gerechtigkeit ist uns nicht wichtig. 

Das Gespräch führten Nina Haase und Sumi Somaskanda.