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Tobore Ovuorie: Aufstehen für die Stimmlosen

Marie Sina
13. Juni 2021

Tobore Ovuorie erhält am Montag den diesjährigen Freedom of Speech Award der DW. Die Journalistin aus Nigeria will auf das Leid der Ausgegrenzten in ihrer Heimat aufmerksam machen - und riskiert dafür sogar ihr Leben.

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Freedom of Speech Award 2021 | Preisträgerin Tobore Ovuorie aus Nigeria
Bild: Elvis Okhifo/DW

Tobore Ovuorie war vor Angst wie erstarrt. Blut bedeckte ihre Kleidung, um sie herum lagen zwei Körper mit abgeschlagenen Köpfen. Schreie gellten durch das dunkle Camp. Die jungen Frauen um sie herum flohen in die Nacht. Schließlich verlor sie das Bewusstsein.

Immer noch weint und zittert Ovuorie, wenn sie sich an diese Nacht erinnert. Auch heute, sieben Jahre später. Monatelang hatte die damals 33-jährige Journalistin undercover über Menschenhandel und Zwangsprostitution in Nigeria recherchiert. Durch ihre Berichterstattung enthüllte sie düstere Machenschaften krimineller Gangs, die in Prostitution, Menschenhandel und Organhandel verstrickt sind.

'Die Geschichte selbst durchleben'

Einige Wochen vor Beginn der Recherchen hatte eine Redakteurin Ovuorie gebeten, über Frauenhandel in Nigeria zu berichten. Dafür sollte sie mit Opfern sprechen. Ovuorie lacht, wenn sie sich an das Gespräch erinnert und schnalzt missbilligend mit der Zunge: "Die schreiben sich doch nicht auf die Stirn: 'Hey! Ich werde bald verschleppt'", sagt sie zur DW. 

Für sie war klar: "Wir mussten das selbst durchmachen. Ansonsten wird die Geschichte nichtssagend." Bei jedem Wort klatscht sie laut in die Hände, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Raum für Kompromisse gibt es in ihrer Arbeit nicht.

Ihr Mut beeindruckt viele - auch die Deutsche Welle: Sie verleiht Ovuorie dafür den diesjährigen Freedom of Speech Award.

Nigerianische Prostituierte in Benin-City
Ovuorie kennt das Leid nigerianischer ProstituierterBild: AFP/P. Utomi Epkei

"Wenn sich jemand derart in Gefahr begibt, um die Wahrheit herauszufinden, dann ist das aller Achtung wert", sagt DW-Intendant Peter Limbourg. "Es ist wichtig, dass wir die Preisträgerin persönlich stärken, und dass wir den Journalismus in Afrika insgesamt stärken."

Aus Nigeria verschleppt

Die Internationale Organisation für Migration (IOM) schätzt, dass 80 Prozent aller Mädchen und Frauen, die aus Nigeria nach Europa kommen, potenzielle Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution sind. Ovuories beste Freundin war eine von ihnen. Sie starb an HIV/AIDS, nachdem sie nach Italien geschleust worden war.

Mit ihrer Recherche arbeitete Ovuorie das Schicksal ihrer Freundin und vieler anderer Frauen auf. Sie zeichnete die persönlichen Geschichten tausender Opfer nach, die jährlich von Nigeria nach Italien gebracht werden.

Mit Hilfe ihrer Kolleginnen und Kollegen der nigerianischen Zeitung Premium Times tauchte sie für sieben Monate in eine fremde Welt ein: Sie nahm eine andere Identität an, änderte ihre Kleidung, ihre Frisur, ihr Make-up und sogar die Art, wie sie sprach. Sie gab sich als Prostituierte aus und wurde von einem Zuhälter aufgenommen.

Die Recherche in der Schattenwelt hinterließ Spuren an ihrem eigenen Körper. Ihr Haar wurde abgeschnitten, sie wurde geschlagen, missbraucht, ins Krankenhaus eingewiesen und entkam nur knapp dem Tod.

Nach einigen Monaten bekam Ovuorie grünes Licht von ihrem Zuhälter: Sie sollte nach Italien geschmuggelt werden. Ein Bus brachte sie mit einer Gruppe junger Frauen ins Nachbarland Benin. Unterwegs musste Ovuorie miterleben, wie zwei Mitgefangene enthauptet wurden. Ihre Organe sollten auf dem Schwarzmarkt verkauft werden. In Benin gelang ihr mit Hilfe einer Kollegin die Flucht.

Gegen alle Vorurteile

Bereits während ihrer Kindheit in Nigerias Wirtschaftsmetropole Lagos wusste Tobore Ovuorie, dass sie Journalistin werden wollte – schon bevor sie zur Schule ging. Jede Woche schickte sie handgeschriebene Geschichten und Gedichte an nigerianische Zeitungen. Wenn die Redaktionen ablehnten, schickte sie völlig unbeeindruckt weitere Texte.

Als sie in der Oberstufe war, wurde die Mutter einer Klassenkameradin beschuldigt, ihren Mann durch Hexerei ermordet zu haben. Tobore protestierte dagegen – erfolglos.

"Alle haben mir immer und immer wieder gesagt: 'Du bist ein Mädchen, Du musst still sein, Du redest zu viel'. Ich spürte Ärger und Zorn. Ich wollte mich nicht anpassen", sagt sie kopfschüttelnd im DW-Interview.

DW Freedom of Speech Award 2021 für Tobore Ovuorie
Der Freedom of Speech Award wird seit 2015 vergebenBild: DW

Sie sperrte sich in ihrem Zimmer ein, schrieb jedes Detail ihrer Geschichte auf. Als ihr Vater die Aufzeichnungen in einer Schublade fand, ermutigte er sie, schreibend gegen die Ungerechtigkeit anzukämpfen.

Ovuorie tat es. "Ich habe beschlossen, das für den Rest meines Lebens zu machen: Mit der Macht des geschrieben Wortes für die aufzustehen, die keine Stimme haben."

Doch zunächst musste sie als junge Reporterin mit den Vorurteilen gegenüber Frauen in der nigerianischen Medienlandschaft aufräumen. "Frauen haben über Familie, Mode und Unterhaltung berichtet. Die härteren Geschichten waren für Männer bestimmt."

Der Kampf geht weiter

Viele Wunden, die Tobore Ovuorie während der Recherche über die nigerianische Sex-Mafia zugefügt wurden, sind bis heute nicht vollständig verheilt. Sie kämpft gegen Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS).

Undercover-Journalist Anas Aremeyaw Anas aus Ghana
Der ghanaische Investigativjournalist Anas Aremeyaw Anas lobt ihren MutBild: DW/H. Fischer

Ihr ghanaischer Journalistenkollege Anas Aremeyaw Anas bewundert sie dafür, dass sie trotzdem nicht aufgibt. 

"An einem bestimmten Punkt ihrer Karriere dachten wir, das könnte das Ende ihrer Arbeit sein. Aber sie kam wieder. Das Unrecht, das sie in der Gesellschaft sieht, treibt sie an. Sie will sicherstellen, dass die schwächeren Gruppen, Frauen und Kinder, Gerechtigkeit erfahren", sagt er der DW. 

Auch nach ihrer Recherche über Zwangsprostitution widmet sich Tobore Ovuorie harten Themen: Sie berichtete über Opfer des Menschenhandels in Libyen und die Stigmatisierung von nigerianischen Kindern, die HIV-positiv sind. Gerade recherchiert sie, ob Botschaftsmitarbeiter in den Menschenhandel verwickelt sind.

Wenn sie gefragt wird, ob sie es bereut, ihr Leben für ihre Recherchen in Gefahr zu bringen, dann muss sie keine Minute zögern: "Absolut nicht. Sie haben dazu geführt, dass Menschen neu nachdenken. Ich kann ins Bett gehen und ruhig schlafen. Für mich ist das ein sinnvolles Leben."

Dieser Beitrag wurde aus dem Englischen adaptiert.